Samstag 02 April 2022, 10:55

Wunder von Belo Horizonte

  • Nachdem England und die USA in die gleiche Gruppe für Katar 2022 gelost wurden, werden Erinnerungen an ein vergangenes Duell wach

  • ​1950 verblüfften die USA die Three Lions mit einer Mannschaft, die aus einem Tellerwäscher, einem Leichenwagenfahrer und einem in Haiti geborenen Studenten bestand

  • Die englische Presse, die von einem Übertragungsfehler ausging, berichtete von einem 10:1-Sieg für England

England reiste 1950 zu seiner ersten Endrunde um die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft mit einer vor Selbstvertrauen nur so strotzenden Mannschaft nach Brasilien. Das Team um den großen Flügelstürmer Stanley Mathews war für viele klarer Favorit auf den Gewinn der ersten Weltmeisterschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Die USA ihrerseits, die eine lange Anreise mit dem Schiff hinter sich hatten, nahmen mit einem bunten Haufen von Amateuren am Turnier teil und komplettierten mehr oder weniger nur das Teilnehmerfeld.

Was dann am 29. Juni 1950 geschah, gilt auch heute noch als eine der größten Sensationen im Weltfussball. Damals setzte sich "David" dank eines unbekannten, aus Haiti stammenden Studenten, eines unbezwingbaren Leichenwagenfahrers und einer gehörigen Portion Glück gegen "Goliath" durch. FIFA.com wirft einen Blick zurück auf "das Wunder von Belo Horizonte".

Die Kulisse

Als Erfinder des modernen Fussballs trafen die Engländer in Brasilien ein. In ihrem Team standen international bekannte Stars wie Mathews, Wilf Mannion und Tom Finney, und jeder erwartete, dass sie durch das Turnier spazieren würden. Zunächst schien für die Spieler von Walter Winterbottom auch alles nach Plan zu laufen, denn in der ersten Partie besiegte man ohne große Mühe das Team Chiles. Dann erwartete die Engländer mit den USA eine wohl noch leichtere Aufgabe. Im Gegensatz zu den Turnieren von 1930 und 1934, als man vor allem auf im Ausland geborene Spieler setzte, bestand das U.S.-amerikanische Team nämlich dieses Mal aus einheimischen Amateuren und Halbprofis. Die meisten spielten für wenig Geld nach der Arbeit und an Wochenenden in einem Land, in dem der Fussball noch eine neue Sportart war, die vor allem an Universitäten und in den Einwanderervierteln gespielt wurde. Nach der 1:3-Auftaktniederlage gegen Spanien gingen die U.S.-Amerikaner als 1:500-Außenseiter in die Partie gegen England.

Die Handlung

Wie erwartet standen die Amerikaner vom ersten Augenblick an unter Druck. Nach gerade einmal eineinhalb Minuten erreichte Roy Bently eine scharf hereingeschlagene Flanke und zwang Frank Borghi – den überragenden U.S.-Keeper, der im Hauptberuf Leichenwagenfahrer war – zu einer spektakulären Parade. Der Druck auf den tapferen Borghi sollte keineswegs nachlassen, denn die Engländer, die ohne ihren großen Star Stanley Mathews angetreten waren, den Trainer Winterbottom gegen diesen vermeintlich leichten Gegner schonen wollte, hatten in den ersten zwölf Spielminuten nicht weniger als sechs klare Torchancen. Zwei Mal traf der Ball dabei den Pfosten. "Ich hatte gehofft, dass sie an dem Tag nicht mehr als fünf oder sechs Tore schießen würden", erinnert sich Borghi an seine Gedanken vor Beginn der Partie.

Dann kam die 37. Minute, die für das Spiel von entscheidender Bedeutung sein sollte. Bis dahin hatten die U.S.-Amerikaner gerade einmal einen harmlosen Schuss auf das Tor des englischen Keepers Bert Williams zustande gebracht. In der Tat hatten sie größte Probleme damit, den Ball in den eigenen Reihen zu halten. Dass sie überhaupt noch in der Partie waren, hatten sie den unglaublichen Paraden von Borghi und dem fahrlässigen Umgang der Engländer mit ihren Großchancen zu verdanken. Acht Minuten vor dem Halbzeitpfiff jedoch schlug Walter Bahr – ein Lehrer aus Philadelphia – auf gut Glück einen Ball aus dem Mittelfeld nach vorne, zu weit wie es schien, um noch von einem der vier amerikanischen Stürmer erlaufen zu werden. Torhüter Williams machte einen Schritt nach vorne, um den Ball aufzunehmen, als sich Gaetjens irgendwie in die Flugbahn der Kugel warf und diese an dem verdutzten Torhüter vorbei ins englische Tor köpfte. Torschütze Gaetjens, ein in seinen Leistungen etwas schwankender, sehr athletischer Stürmer, studierte Rechnungswesen, arbeitete nebenher als Tellerwäscher in einem Restaurant in Brooklyn und wurde von U.S.-Coach William Jeffrey am Vorabend des Turniers in Brasilien entdeckt.

Nach der Pause gingen die 10.000 Fans davon aus, dass die Engländer nun aufwachen und dem "Nobody" eine Lektion erteilen würden. Doch die U.S.-Amerikaner spielten dank Gaetjens Tor nun zuversichtlicher, während Borghi, der Ball um Ball parierte, zum überragenden Spieler der Partie wurde. Das Selbstvertrauen des Außenseiters wurde immer größer und nun ergriffen auch die Zuschauer Partei für die jungen, mutigen Amateurspieler und feuerten sie lautstark an. Die Engländer ihrerseits wurden immer frustrierter. Ihre letzte Chance hatten sie acht Minuten vor dem Ende, doch Charlie Gloves Colombo, kompromissloser Mittelfeldspieler im Team der USA, holte Mortensen, der allein auf das Tor zulief, mit einer Art Rugby-Tackle noch von den Beinen.

Nach dem Schlusspfiff wurden die U.S.-Spieler auf den Schultern brasilianischer Fans um den Platz getragen, die niemals den Tag vergessen sollten, an dem die USA das englische Team bezwangen.

Die Reaktionen

"Man gibt sich alle Mühe und hält dem Ansturm des Gegners eine Weile stand. Aber normalerweise gelingt einem das gegen eine viel bessere Mannschaft nicht so gut wie uns an diesem Tag, besonders weil wir ein relativ frühes Tor erzielt hatten. Mit einem 0:2 wären wir sehr zufrieden gewesen. In den kühnsten Träumen hätten wir nicht mit einem Sieg gerechnet. Wir dachten nur: 'Wir geben alles und hoffen auf ein gutes Ergebnis'." Harry Keough (Verteidiger, USA)

"Uns ist nicht viel gelungen. Es war eines dieser Spiele, die wir einfach verlieren mussten. Wir trafen bereits in der ersten Halbzeit mehrfach den Pfosten und in der zweiten Hälfte noch zwei Mal. Sie schafften das Tor, das eigentlich ein absoluter Witz war, und uns verließ die Moral. Danach glaubten wir wohl, dass es einfach nicht unser Tag sein würde und hörten auf zu spielen Wir hätten 100 Mal gegen sie antreten können und hätten sie problemlos 99 Mal geschlagen." Sir Tom Finney (Stürmer, England und Preston North End)

Das geschah danach

Die kalt erwischten Engländer sollten sich von diesem Schock nicht mehr erholen und verloren anschließend - mit Mathews zurück im Team - ihre dritte Partie. Als Versager in den Augen der Medien und der Fans traten sie die Heimreise an. 16 Jahre später, 1966, holten sie unter Trainer Alf Ramsey, der damals als Spieler dabei gewesen war, im eigenen Land ihren ersten und bislang einzigen WM-Titel. Die U.S.-Boys ihrerseits konnten nicht mehr an die Form in der Partie gegen England anknüpfen und unterlagen im nächsten Spiel den Chilenen mit 2:5. Zuhause gab es keinen Empfang für die Helden von Belo Horizonte und weitere 40 Jahre sollten ins Land gehen, bevor die Stars & Stripes wieder an einer WM-Endrunde teilnehmen würden.