Montag 15 Juni 2020, 10:47

Drei Tore für Belanov, aber Belgien siegt

  • Die Sowjetunion hatte in der Gruppenphase begeistert

  • Belanov spielte großartig, fand aber ungewollte Aufnahme in einen exklusiven Klub

  • Der 20-jährige Scifo war nicht zu stoppen

Es ist in der Geschichte der FIFA-Weltmeisterschaft™ nur drei Mal vorgekommen, dass ein Spieler in einer einzigen Partie drei oder mehr Tore erzielte und seine Mannschaft trotzdem verlor. Nach dem Polen Ernest Wilimowski im Jahre 1938 und dem Schweizer Josef Huegi 1954 komplettierte Igor Belanov das Trio der unglücklichen Verlierer, als seine sowjetische Mannschaft sich bei der WM 1986 in Mexiko gegen Belgien geschlagen geben musste.

Belanov und seine Mannschaftskameraden haderten mit Recht mit ihrem Schicksal, nachdem sie in der Gruppenphase für ihren unterhaltsamen, schnellen Angriffsfussball viel Beifall geerntet hatten.

Trainer Valeriy Lobanovskyi, der sein Amt als Nationaltrainer der UdSSR erst einige Wochen vor dem Beginn der Endrunde angetreten hatte, warf alle Pläne seines Vorgängers Eduard Malofeev über den Haufen und baute sein Team vor allem auf Spielern seines eigenen Vereins, Dynamo Kiew, auf. Dazu hatte er auch guten Grund, denn schließlich hatte Dynamo erst einen Monat zuvor den Europapokal der Pokalsieger gewonnen.

Diese Mannschaft hatte Ausnahmetalente wie Belanov zu bieten, der später zu Europas Fussballer des Jahres 1986 gewählt werden sollte. Außerdem war da noch der geniale Mittelfeldspieler Alexandr Zavarov, der Belanov die Auszeichnung zum sowjetischen Spieler des Jahres vor der Nase wegschnappte, und natürlich der Stürmerroutinier Oleg Blokhin, der bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Deutschland 2006 ™ als Trainer der Ukraine dabei war. Die Sowjets unterstrichen ihre Qualitäten mit ihrer ungewöhnlich attraktiven Spielweise und einem beeindruckenden 6:0-Sieg gegen Ungarn im Auftaktspiel. Es folgte ein 1:1 gegen den damaligen Europameister Frankreich auf dem Weg zum Gruppensieg und zur Begegnung mit Belgien in der nächsten Runde.

Die "Roten Teufel" von Guy Thys waren dagegen nur als eines der besten drittplatzierten Teams in die zweite Runde eingezogen, wobei sie als einzigen Sieg ein nicht gerade überzeugendes 2:1 gegen Irak vorzuweisen hatten. Außer dem vielversprechenden 20-jährigen Mittelfeldtalent Enzo Scifo schienen sie nur wenig in petto zu haben, was die Sowjets schrecken konnte, insbesondere nach dem verletzungsbedingten Ausfall von Erwin Vandenbergh and Rene Vandereycken. Daher waren die meisten Experten im Vorfeld der Ansicht, dass der bei Bayern München unter Vertrag stehende Torhüter der Belgier, Jean-Marie Pfaff, in Leon wahrscheinlich viel zu tun bekommen würde.

Wenig Chancen für Belgien

Im Anfangsaufgebot der Sowjets standen sieben Spieler aus Dynamo Kiews siegreicher Europapokalmannschaft, und der selbstbewusste Start in die Partie zeugte davon, dass man es hier mit einer eingespielten Truppe zu tun hatte. Mit ihrem präzisen Kurzpass-Spiel setzten die Sowjets die Belgier gehörig unter Druck. Insbesondere Belanov und Zavarov harmonierten hervorragend, und so war es dann auch nicht überraschend, dass dieses Duo in Gemeinschaftsarbeit das erste Tor produzierte. Zavarov legte den Ball nach vorne auf Belanov ab. Dieser rannte mit dem Leder quer durch den Strafraum, drehte sich und zog den Ball schräg in Richtung gegenüberliegende Ecke. Als das Leder vom Pfosten abprallte und in den Maschen landete, konnte der Torschütze einen der schönsten Treffer des Turniers feiern. Nach27 Spielminuten waren die Sowjets in Führung gegangen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Belgien nur bei einer Gelegenheit den Hauch einer Chance, und zwar bei einem von Scifo ausgeführten Freistoß, der für den sowjetischen Schlussmann Rinat Dassaiev jedoch kein ernstes Problem darstellte. Bis zur Pause brachte das Konterspiel der Belgier auch nichts mehr ein. Stattdessen wurde Pfaff zu einigen schnellen Reaktionen gezwungen. So musste er blitzartig herauslaufen, um eine gute Chance von Belanov zu vereiteln und einen höheren Rückstand zu verhindern. Zu Beginn der zweiten Spielhälfte hatten die Belgier dann nochmals Glück. Belanov köpfte das Leder nach einer Hereingabe von Pavel Yakovenko gegen den Pfosten, und Daniel Veyt klärte nach Zavarovs Nachschuss auf der Linie.

Das Blatt wendet sich

Dann wurde der Spielverlauf auf den Kopf gestellt, als Belgien in der 56. Minute plötzlich der Ausgleichstreffer gelang. Die Abwehr der Sowjetunion wurde auf dem falschen Fuß erwischt, als Frank Vercauteren auf den am langen Pfosten völlig freistehenden Scifo ablegte. Der Nachwuchsspieler konnte den Ball in aller Ruhe annehmen und dann an Dassaiev vorbei ins Netz lenken. Belgien war wieder im Spiel, obwohl es nicht lange dauerte, bis die Schützlinge von Lobanovskyi wieder zu ihrem Spielrhythmus fanden. Nach 70 Spielminuten verlor Jan Ceulemans den Ball im Mittelfeld und die Sowjets nutzten die Konterchance. Zavarov legte den Ball auf Belanov ab, und die Nummer 19 schob ihn zwischen dem abtauchenden Pfaff und dem langen Pfosten hindurch ins Tor.

Wenn Ceulemans an diesem Tor nicht ganz unschuldig war, dann machte er seinen Fehler mit dem zweiten Ausgleichstreffer für Belgien sieben Minuten später wieder wett. Ob die Herausnahme des durchschlagskräftigen Zavarov und die Einwechslung von Sergei Rodionov den Belgiern nun Auftrieb gab, sei dahingestellt. Die eigentliche Wende im Spiel war der Treffer des Mannschaftskapitäns. Ein langer Ball aus den hinteren Reihen erreichte Ceulemans, der viel Platz hatte, den Ball mit der Brust annahm und aus der Drehung flach in die lange Ecke jagte. Die vorherigen Abseitsreklamationen der sowjetischen Spieler hatte der Schiedsrichter ignoriert.

Als die Verlängerung schon vor der Tür stand, hatten die Belgier großes Glück. Nach Ivan Yarenchuks Schuss prallte das Leder nur an die Querlatte. Dann hatten sie allerdings selbst noch einmal den Siegtreffer auf dem Fuß. Dassaiev musste sich ganz lang machen, um den Ball nach Scifos Schuss noch wegzufausten. Nachdem sie bereits zwei Mal in Führung gegangen waren, wurde den Sowjets an einem heißen, windigen Nachmittag nun noch einmal dasselbe abverlangt. Es wollte allerdings nicht gelingen, und stattdessen hatten plötzlich die Belgier in der 12. Minute der Verlängerung die Nase vorn. Nach einer kurz ausgeführten Ecke gab Eric Gerets den Ball herein und der am langen Pfosten freistehende Stephane De Mol befördert ihn per Kopf ins Netz.

Der Außenseiter sah nun seine Siegeschance, und in der 110. Minute baute Nico Claesen die Führung sogar noch aus. Claesen kam nach einer Kopfballvorlage des eingewechselten Leo Clijsters an den Ball, und beförderte ihn mit einem sehenswerten Volleyschuss an Dassaiev vorbei ins Netz. Die Sache war jedoch noch nicht gelaufen, denn 60 Sekunden später holte Belanov einen Elfmeter heraus und verwandelte ihn auch sogleich. Damit war sein Hattrick perfekt. Die Nerven der Belgier wurden nochmals strapaziert, aber den Sowjets wollte kein vierter Treffer mehr gelingen. In den letzten Sekunden lenkte Pfaff den Ball nach Evtushenkos kühnem Heber noch einmal über die Latte.

Die Freude der Belgier kannte keine Grenzen. Schließlich hatten sie es zum ersten Mal unter die letzten Acht geschafft. Die Mannschaft von Thys sollte gegen Spanien für eine weitere Überraschung sorgen, bevor das große WM-Abenteuer mit einer Halbfinalniederlage gegen das von Diego Maradona inspirierte Argentinien endete. Für die in Leon geschlagenen Sowjets war diese Niederlage jedoch das Ende der Fahnenstange. Zwar schaffte es die Mannschaft bei der UEFA Europameisterschaft 1988 noch einmal bis ins Finale und belegte am Ende Platz 2, doch zu Beginn des nächsten Jahrzehnts zerfiel die Sowjetunion dann in zahlreiche Einzelstaaten. Einen letzten Blick auf die alten Trikots mit den kyrillischen Buchstaben CCCP konnte man 1990 in Italien werfen, aber die Auftritte sollten nie wieder so glanzvoll sein wie unter der mexikanischen Sonne, als Belanov selbst mit seinem denkwürdigen Hattrick das WM-Aus nicht verhindern konnte.