Dienstag 08 September 2020, 07:02

Trésor: "Ich war völlig begeistert vom brasilianischen Fussball"

  • Marius Trésor über seine Karriere bei den Bleus

  • Der Verteidiger nahm an zwei WM-Endrunden teil

  • Er erinnert sich an seine vier Länderspieltore

Marius Trésors Karriere im Nationaltrikot begann bereits zwei Jahre nachdem er nach Frankreich gekommen war. In Ajaccio auf Korsika war er vom Stürmer zum Verteidiger umfunktioniert worden. Anfänglich allerdings gab es durchaus ernüchternde Resultate. Zwölf Jahre später musste der inzwischen legendäre Verteidiger seine Karriere wegen einer Rückenverletzung vorzeitig beenden. Er nahm an zwei WM-Endrunden teil und spielte 1986 in dem unvergesslichen Halbfinale gegen Deutschland, in dem ihm ein traumhaftes Volleytor gelang. Dennoch mussten er und sein Team sich kurz darauf unter Tränen aus dem Turnier verabschieden.

"Ich war dem Pokal ganz nahe", so Trésor Jahre später, nachdem er voller Freude zugesehen hatte, wie die nachfolgenden Generationen Frankreich zu einem Siegerteam machten.

Gemeinsam mit FIFA.com erinnert sich Frankreichs Fussballer des Jahres 1972 an seine herausragende Karriere im blauen Trikot, das er 65 Mal trug, 23 Mal davon als Kapitän.

Marius Trésor, hat die Tatsache, dass Sie selbst Stürmer waren, Sie zu einem besseren Verteidiger gemacht?

Ich denke schon. Es ist nicht selten passiert, dass ich vorhersehen konnte, was ein Angreifer als nächstes tut, indem ich mir einfach vorgestellt habe, was ich an seiner Stelle tun würde. Und ich bin damit keineswegs allein. Laurent Blanc war am Anfang auch ein Zehner und wurde ein herausragender Innenverteidiger. Ich liebte es, mit dem Ball am Fuß nach vorn zu stürmen. Bei meinem ersten Tor für Ajaccio - es war gegen Rennes - habe ich den Ball rund 20 Meter vor unserem Tor bekommen, bin übers ganze Feld gestürmt und habe schließlich den gegnerischen Torhüter Marcel Aubour (Ex-Nationaltorhüter Frankreichs und Stammspieler bei der WM 1966, Red.) überwunden. Von diesem Tor hat man noch lange gesprochen.

Wie kam es dazu, dass Sie vom Stürmer zum Verteidiger wurden?

Als ich zu Ajaccio kam, ließ der Trainer mich auf dem linken oder rechten Flügel spielen, aber nicht im Zentrum, weil er schon zwei reinrassige Mittelstürmer hatte. Ich war gerade erst angekommen und wollte mir einen Platz im Team sichern. Daher habe ich zugestimmt, es einmal als Verteidiger zu versuchen. Nach dem Training sagte der Trainer, dass ich von nun an immer auf dieser Position spielen würde. Das erste Spiel war ein Erfolg und ich wurde schnell zum Stammspieler. Ich habe diesen Schritt nie bereut, denn zwei Jahre später fand ich mich in der französischen Nationalmannschaft wieder. Es ging alles ziemlich schnell für mich. Wenn mir das jemand prophezeit hätte, als ich noch in Guadeloupe war, hätte ich es für einen Witz gehalten (lacht). Ich hätte mir nie träumen lassen, auf dieser Position eine solche Karriere zu machen.

Ab wann haben Sie sich im Nationalteam wirklich wohl gefühlt?

Das ging eigentlich ziemlich schnell. Der damalige Trainer Georges Boulogne hat mich erstmals in einem Spiel gegen Bulgarien eingesetzt (am 4. Dezember 1971), und zwar als Linksverteidiger – eine Position, auf der ich nie zuvor gespielt hatte! Am Ende haben mir meine Mitspieler und auch alle Journalisten gratuliert. Mein zweites Spiel für die Bleus ist mir besonders gut in Erinnerung geblieben, auch wenn wir es mit 0:2 gegen Rumänien verloren haben. Dabei spielte ich als Rechtsverteidiger! Und auch das war das erste Mal für mich. Mein direkter Gegenspieler war Anghel Iordănescu, der wenige Monate zuvor den Tschechoslowaken Karol Dobiaš regelrecht an die Wand gespielt hatte. Dobiaš galt seinerzeit zusammen mit dem Brasilianer Carlos Alberto als bester Rechtsverteidiger der Welt. Am Ende wurde ich zum besten Spieler der Partie gewählt, weil Iordănescu nur ein einziges Mal an mir vorbei gekommen ist. Nie zuvor hatte ich in einem Spiel so viele Tacklings (lacht)!

Erzählen Sie uns von Ihrem ersten Länderspieltor für Frankreich…

Das war 1973 in Gelsenkirchen in einem Spiel gegen Deutschland. Wir haben mit 1:2 verloren. Ich war ziemlich weit weg vom Tor, doch Jean-Pierre Adams mit dem ich zusammen in der Achse spielte, rief: "Schieß, schieß!" Ich suchte eigentlich einen besser postierten Mitspieler, aber dann habe ich es einfach mit einem Schuss versucht und er ist reingegangen! (lacht).

Auch Ihr zweites Länderspieltor war sehr schön...

Ja, das war 1977 gegen Brasilien, im Maracanã-Stadion. In meiner Kindheit waren wir alle verrückt nach Brasilien. Unsere Idole waren Pelé, Garrincha, Didi… Wenn wir unsere Turniere gespielt haben, nannten wir unsere Teams Santos, Fluminense oder Flamengo. Ich war völlig begeistert vom brasilianischen Fussball. Dass ich damals zum 2:2 in diesem legendären Stadion beigetragen habe, war einfach herausragend. Auf brasilianischer Seite lief der Verteidiger Luís Pereira auf. Er spielte damals für Atlético Madrid und war einer der Spieler, die ich bewunderte. Dass ich damals noch höher gesprungen bin als er und mein Tor per Kopf machte, hat mich doppelt glücklich gemacht.

Ihr drittes Länderspieltor gelang Ihnen gegen Luxemburg, nach einem sehr langen Alleingang…

Ja. Das war ein ganz ähnliches Tor wie das für Ajaccio gegen Rennes. Ich kam 20 Meter vor dem eigenen Tor in Ballbesitz und bin über das ganze Spielfeld gerannt. Allerdings war Luxemburg damals wirklich eine kleine Fussballnation…

Welche Erinnerungen haben Sie an die FIFA Fussball-WM 1978™, bei der Frankreich nach der Gruppenphase ausgeschieden ist?

Die letzte WM für Frankreich war England 1966 gewesen. Wir haben uns durch einen 3:1-Sieg gegen Bulgarien im Prinzenparkstadion qualifiziert. Für uns war schon die Teilnahme in Argentinien nach zwölf Jahren WM-Abstinenz ein Riesenerfolg. Ich denke, wir hätten viel weiter kommen können, wenn uns klar gewesen wäre, dass das eigentlich nur der Anfang war. Aber wir waren mental nicht gut genug vorbereitet. Außerdem war schon von vornherein klar, dass es sehr schwer werden würde. Schließlich spielten wir in einer Gruppe mit dem Gastgeber und mit Italien.

Inwiefern war dieses schwache Abschneiden letztlich positiv für die Zukunft?

Die Teilnahme an einer Weltmeisterschaft ist der heilige Gral für Fussballer. Diese Erfahrung hat uns geholfen, uns viel besser auf die nächste Auflage vorzubereiten. Vier Jahre später sind wir sehr schlecht ins Turnier gestartet, mit einer 1:3-Niederlage gegen England. Die ganze Welt erwartete, dass wir erneut nach der Gruppenphase ausscheiden würden. Aber wir haben uns gesagt, dass das nicht in Frage kommt. Danach haben wir ein ganz anderes Gesicht gezeigt und sind bis ins Halbfinale gekommen.

War das Tor, das Sie zu Beginn der Verlängerung in diesem Halbfinale zum 2:1 gegen Deutschland erzielten, Ihr schönstes in der Nationalmannschaft??

Oh nein, mir war das gegen Brasilien viel lieber (lacht)! Das Tor im Maracanã-Stadion hat uns ein gutes Resultat eingebracht. Das Spiel gegen Deutschland hingegen endete trotzdem mit einer Niederlage. Später sagte ich zu Patrick Battiston, dass es mir viel lieber gewesen wäre, wenn ich nicht getroffen hätte, wenn er dafür seine Chance bei diesem berüchtigten "Zusammenprall" mit Schumacher hätte nutzen können. Dann hätten wir im Finale um den Weltmeistertitel gestanden.

Hat auch diese schmerzliche und traumatisierende Niederlage letztlich etwas Gutes gehabt?

Man sollte nicht vergessen, dass Frankreich zwei Jahre später erstmals Europameister wurde! Ich selbst war leider wegen meiner Rückenverletzung bei diesem Turnier nicht dabei. Aber ich war natürlich begeistert vom Erfolg meiner alten Teamkameraden. Und wieder zwei Jahre später sind wir bei der WM 1986 Dritter geworden, mit einer wirklich herausragenden Mannschaft. Leider waren es auch dort wieder die Deutschen, die uns im Weg standen. Aber das Viertelfinale gegen Brasilien war eines der besten Spiele, die ich je gesehen habe.

Was haben Sie empfunden, als Frankreich 1998 endlich zum ersten Mal die Weltmeisterschaft gewonnen hat?

Ich habe mich sehr intensiv gefreut, zumal ich ja selbst früher der Équipe tricolore angehörte. Selbst 2018 war es für mich immer noch so, als wäre ich selbst Teil des Teams. Bei all den großartigen Spielern, die dieses Trikot trugen, war der Titel eine angemessene Belohnung. Es macht mich sehr stolz, wie weit Frankreich gekommen ist, das jetzt zu den wirklich großen Fussballnationen gehört.

Verraten Sie uns zum Abschluss noch, welche gegnerischen Stürmer Ihnen in Ihrer Karriere am meisten zugesetzt haben?

Im internationalen Fussball war das Gerd Müller. Ich habe zwar nur ein Mal gegen ihn gespielt, aber wir haben 1:2 verloren und er hat beide Tore für Deutschland erzielt. Er war einer dieser Spieler, die es auf sehr intelligente Weise schaffen, dass man sie nicht bemerkt. Immer wieder hieß es, man habe nichts von ihm gesehen – und trotzdem stand sein Name fast jedes Mal als Torschütze auf der Anzeigetafel. Von den Franzosen war es Bernard Lacombe. Er war wirklich giftig (lacht)! Er kannte keine Angst, vor nichts und niemand. Aber der großartigste Angreifer, den ich in meiner ganzen Karriere in Frankreich erlebt habe, ist Josip Skoblar. Ich habe in Marseille gegen ihn und später mit ihm gespielt und ich werde seine Ausbeute in der Saison 1971/72 niemals vergessen: 44 Tore, ohne Elfmeter. Er war einfach phänomenal. Genau wie Lacombe war es auch bei ihm: Wenn er aufs Feld kam, wusstest du als Verteidiger, dass du keinen schönen Nachmittag haben wirst (lacht).