Dienstag 03 Mai 2016, 15:31

Technische und taktische Studien im Zentrum der Schiedsrichtervorbereitung

"Dieses Team agiert so viel wie möglich im letzten Drittel des Spielfelds. Sie spielen sehr geduldig, wenn sie in Ballbesitz sind. Hier muss man aufpassen: Sie spielen mit zwei sehr schnellen Außenstürmern, die jederzeit zu einem Konter bereit sind, auch wenn das Team den Ball nicht hat."

Wer diese Lektion hört, könnte meinen, dass hier ein Trainer seine Mannschaft auf den nächsten Gegner einstellt. Doch ein derart tiefes fussballerisches Verständnis wird auch für eine weitere wichtige Gruppe im Profifussball immer wichtiger, nämlich die Schiedsrichter.

Das intensive Studium der taktischen und technischen Eigenheiten des modernen Fussballs gehört zu den zentralen Themen bei den Seminaren für die vorausgewählten Schiedsrichter und Schiedsrichterinnen für die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Russland 2018™ und die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft Frankreich 2019™. Jean-Paul Brigger, der Leiter der technischen Abteilung der FIFA, ist bei diesen kontinentalen Seminaren stets dabei und jederzeit bereit, über die neuesten Tendenzen zu informieren und Datenanalysen zu liefern, um den Schiedsrichtern zu helfen, das Spiel besser zu verstehen, Aktionen vorauszuahnen und damit letztlich ihre Positionierung auf dem Feld und die Entscheidungsfindung zu optimieren.

"Ein gutes fussballerisches Verständnis war für die Schiedsrichter schon immer sehr wichtig. Doch mittlerweile ist das Spiel so schnell und taktisch so variabel geworden, dass es im Elitefussball ohne dieses Verständnis gar nicht mehr geht", erläuterte Brigger im Anschluss an das Seminar für Schiedsrichter aus der CONCACAF- und der CONMEBOL-Zone, das vom 25. bis 29. April in Miami (Florida, USA) stattfand. "Wenn man beispielsweise weiß, dass ein Team die gegnerischen Verteidiger bei Ballbesitz immer massiv unter Druck setzt, dann wirkt sich das direkt auf die Positionierung als Schiedsrichter aus. Weil man weiß, dass es hier immer wieder zu Situationen kommt, in denen Entscheidungen getroffen werden müssen, bleibt man dann besser noch etwas näher am Ball. Derartige Kenntnisse zahlen sich also ganz konkret aus."

Mehr Kenntnisse, weniger Fehler Seitdem er 2011 die Abteilung Schiedsrichterwesen bei der FIFA übernommen hat, arbeitet Massimo Busacca unermüdlich auf das Ziel hin, auf allen Ebenen Konstanz und Einheitlichkeit zu erreichen. Der schweizerische Ex-Schiedsrichter sieht im technischen Fussballverständnis eine weitere Möglichkeit, die Anzahl der Fehlentscheidungen so weit wie nur irgend möglich zu senken. Die FIFA bereitet zudem männliche und weibliche Schiedsrichter auf dem Weg zu den nächsten WM-Turnieren erstmals gemeinsam vor.

"Ich versuche, jede Möglichkeit zu nutzen, die die Anzahl von Fehlentscheidungen verringern kann", so Busacca. "Dabei sind fussballerisches Verständnis und eine gute Kenntnis der am Spiel beteiligten Mannschaften wichtige Waffen. Natürlich wird es immer auch Fehlentscheidungen geben, aber wir versuchen ununterbrochen, die Messlatte höher zu legen. Ein Schiedsrichter, der bei zehn wichtigen Entscheidungen nur einen Fehler macht, kann als Spitzenschiedsrichter gelten. Sollten es jedoch zwei oder drei Fehler sein, dann kann man nicht mehr von Spitzenschiedsrichter sprechen."

Die von Brigger vorgetragenen Lerneinheiten werden von den potenziellen WM-Schiedsrichtern mit großem Interesse verfolgt. Dies gilt insbesondere auch bei Analysen von Szenen aus dem Frauenfussball, der sich in jüngster Zeit ganz besonders schnell weiter entwickelt.

"Dank solcher Schulungen entwickeln wir ein besseres Verständnis für bestimmte Aktionen der Spielerinnen und Spieler. Wir können Entwicklungen im Spiel besser erkennen und uns dann entsprechend darauf einstellen", sagte die Kanadierin Carol Anne Chenard nach dem Seminar in Miami. "Die wertvollen Informationen von der technischen Abteilung machen den Schiedsrichtern die Entwicklung der Taktik sehr viel deutlicher. Dadurch können wir uns besser auf das vorbereiten, was auf dem Spielfeld geschieht."

Auch Mark Geiger, der bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Brasilien 2014™ als erster U.S.-Amerikaner ein Spiel in der K.o.-Runde leitete, ist mit dem Stellenwert der technischen Studien beim Seminar in Miami sehr einverstanden.

"Ein gutes Stellungsspiel und damit verbunden ein optimaler Blickwinkel sind für die richtige Beurteilung von Spielsituationen naturgemäß äußerst wichtig. Ist dies nicht gegeben, kann ein Schiedsrichter keine richtigen Entscheidungen treffen", fasste er zusammen. Zudem verwies er auf das enorm wichtige, aber keineswegs leichte Unterfangen, die nächsten Spielsituationen vorauszuahnen. "Wenn ein Schiedsrichter die Spielweise der beteiligten Teams gut kennt, kann er besser vorausahnen, wohin sich das Spielgeschehen verlagern und was als nächstes passieren wird."