Mittwoch 05 September 2018, 08:13

Parreira über Russland 2018: "Ballbesitz ist nicht mehr das Mass aller Dinge"

Am 23. September 2018 findet in London die FIFA-Fussballkonferenz statt, zu der die FIFA die Nationaltrainer und technischen Direktoren aller 211 Mitgliedsverbände sowie technische Experten aller sechs Konföderationen eingeladen hat. Bis jetzt werden über 150 Trainer erwartet, darunter WM-Gewinner Didier Deschamps, Zlatko Dalić (Kroatien), Roberto Martínez (Belgien), Gareth Southgate (England), Tite (Brasilien), Stanislaw Tschertschessow (Russland), Joachim Löw (Deutschland), Hajime Moriyasu (Japan), Aliou Cissé (Senegal) und Luis Enrique (Spanien).

Im Interview schildert Carlos Alberto Parreira, Leiter der technischen Studiengruppe der FIFA (TSG) und Weltmeistertrainer von 1994, seine Eindrücke der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 2018™ und spricht über neue technische und taktische Trends, die mit im Zentrum der eintägigen Veranstaltung in Englands Hauptstadt stehen werden.

Sie waren als Trainer an sechs WM-Endrunden dabei, aber eine so eingehende Analyse eines Turniers, wie sie die Londoner Konferenz zu Russland 2018 bieten wird, ist auch für Sie etwas Neues. Was dürfen Ihre Kollegen aus den teilnehmenden und anderen Ländern von dieser Veranstaltung erwarten?

Die Konferenz bringt ein aussergewöhnliches Mass an Fussballkompetenz aus aller Welt zusammen, und wir wollen diese seltene Gelegenheit bestmöglich nutzen. Der Austausch von Informationen und Erfahrungen ist für die kontinuierliche Weiterentwicklung des Fussballs unerlässlich, und die Trainer spielen dabei eine zentrale Rolle. Die WM ist stets ein guter Moment, um den aktuellen Stand des Fussballs zu analysieren und neue Trends zu erkennen, die das Spiel in Zukunft prägen könnten. In London werden die Endrundenteilnehmer berichten, welche Herausforderungen sich ihnen stellten und wie sie diese bewältigten, und diese Erkenntnisse mit den anderen Nationen teilen. Das Ergebnis ist ein äusserst wertvoller Dialog, von dem alle Beteiligten profitieren werden.

Welcher Moment der WM in Russland wird Ihnen besonders in Erinnerung bleiben?

Eine knifflige Frage! (lacht) Da gab es sicher einige, aber wenn ich einen wählen muss, würde ich mich für das Endspiel entscheiden. Und damit meine ich nicht nur die Partie an sich, sondern auch das ganze Drumherum: die Show, das Einlaufen der Teams, die letzten Vorbereitungen vor dem Anpfiff, die Musik, die Fans, die Fotografen, die sich in Stellung bringen … Ich liebe all diese Rituale und die spezielle Stimmung, die an einem WM-Finale herrscht. Meine lebhafteste Erinnerung ist nicht ein wichtiges Tor oder ein bestimmter Spielzug, sondern das Gefühl, an etwas ganz Besonderem teilzuhaben, mit der Pokalübergabe als krönendem Abschluss. Natürlich ist es auch spannend, das Gastgeberland kennenzulernen und in eine fremde Kultur einzutauchen, aber am beeindruckendsten finde ich, wie sich der Fussball auf seiner grössten Bühne präsentiert. Ich habe an acht Weltmeisterschaften und zwei Endspielen teilgenommen und hautnah miterlebt, wie enorm sich das Turnier weiterentwickelt hat.

"Talent ist der entscheidende Faktor", sagten Sie vor der WM. Hat sich das in Russland bestätigt?

Absolut, und daran wird sich nie etwas ändern. Mit Talent alleine wird man nicht Weltmeister, aber auch nicht ohne einige herausragende Einzelspieler – sofern diese sich in den Dienst der Mannschaft stellen. Wie heisst es so schön: Teams gewinnen Titel, Talent gewinnt Spiele. Die Topstars unseres Sports sind immer für etwas Unerwartetes gut, das den Unterschied ausmachen kann. Grosse Hoffnungen setzte man für Russland diesbezüglich auf Messi und Neymar, die aber die Erwartungen der Fans leider nicht ganz erfüllen konnten. Eine andere Art von Spieler ist Cristiano Ronaldo, der vor allem seine technische Klasse einmal mehr unter Beweis stellte. Zu überzeugen vermochten insbesondere auch Mbappé, Hazard und Modrić, der zum besten Spieler des Turniers gewählt wurde.

Was ist aus technischer und taktischer Sicht die Haupterkenntnis der WM 2018?

Der Fussball verändert sich ständig. Es macht keinen Sinn, verschiedene Epochen des Spiels miteinander zu vergleichen und Dinge zu behaupten wie „Damals waren die Partien attraktiver“ oder „Früher wurde taktischer gespielt“. So etwas wie schöneren oder hässlicheren Fussball gibt es nicht. In Russland zu beobachten war, dass der Ballbesitz nicht mehr das Mass aller Dinge ist. Stattdessen konzentrierten sich die Teams vor allem darauf, auf engem Raum zu kombinieren, stets kompakt zu stehen und möglichst rasch in die gegnerische Hälfte vorzustossen. Zudem legten sie noch mehr Wert auf mannschaftliche Geschlossenheit, der sich auch die Stars unterordneten.

Sie haben als Trainer einige Zeit im Nahen Osten verbracht. Was erwarten Sie sich von der WM 2022 in Katar?

Wie immer geht alles wieder von vorne los, und ich freue mich jetzt schon auf den Start der Qualifikation. Vier Jahre sind eine lange Zeit, in der die Karten neu gemischt werden, und die Teams haben die Vorbereitung bereits wieder aufgenommen. Von den Favoriten verfügt insbesondere Frankreich über ein solides Fundament, während Brasilien wohl viele neue Spieler einbauen wird. Die stetige Erneuerung und Optimierung der Mannschaft ist für jeden Trainer eine faszinierende Aufgabe. Katar wird zweifellos ein hervorragender Gastgeber sein, der uns mit fantastischen Stadien begeistern wird. Jede Weltmeisterschaft hat ihr eigenes Gesicht, und es wird interessant zu sehen sein, wie das Turnier in einem viel kleineren Land als bei den vorangegangenen Austragungen ablaufen wird. Die Besucher erwartet jedenfalls ein spannendes Reiseziel, und ich bin überzeugt, dass wir eine tolle WM-Endrunde erleben werden.

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