Sonntag 28 Juni 2020, 07:00

Milla: "Mein Rekord ist schwer zu brechen"

  • Vor 26 Jahren trug sich Roger Milla als ältester WM-Torschütze in die Geschichtsbücher ein

  • Russland gegen Kamerun war ein Spiel der Rekorde

  • Trotz historischer Leistung schied Kamerun nach diesem Match aus

Eine Minute. Mehr Zeit benötigte Roger Milla nicht, um Fussballgeschichte zu schreiben. Es ist Dienstag, der 28. Juni 1994. Bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft USA 1994™ stehen sich im letzten Vorrundenspiel der Gruppe B im Stanford Stadium von Palo Alto die Teams aus Russland und Kamerun gegenüber.

Nach 45 Spielminuten hat Oleg Salenko bereits einen lupenreinen Hattrick erzielt und dem russischen Team eine komfortable 3:0-Führung beschert. Kameruns Nationaltrainer Henri Michel entscheidet daraufhin, mit Beginn der zweiten Spielhälfte Altstar Roger Milla einzuwechseln. Dieser schreibt damit Geschichte und wird zum ältesten Spieler, der bis dato je bei einer FIFA Fussball-Weltmeisterschaft™ eingesetzt wurde (dieser Rekord wurde 2014 zunächst von Faryd Mondragon und 2018 dann von Essam El Hadary übertroffen, Red.).

Doch damit nicht genug: Nach Wiederanpfiff ist kaum eine Minute vergangen, da erhält Roger Milla den Ball von der rechten Seite, setzt sich im Zweikampf gegen Dmitriy Khlestov energisch durch und bringt das Spielgerät im Fallen vorbei am russischen Keeper Stanislas Cherchesov im Tor unter. Mit diesem Treffer ist Roger Milla ein weiterer Eintrag in den Annalen des Fussballs sicher, denn dadurch wurde er zum ältesten WM-Torschützen aller Zeiten – ein Rekord, der bis heute Bestand hat.

Anlässlich des Jahrestages dieses ereignisreichen Spiels (das Russland am Ende mit 6:1 für sich entschied), traf sich FIFA.com mit Kameruns Rekordhalter zum Interview.

Heute vor 26 Jahren wurden Sie im Spiel gegen Russland zur Halbzeitpause eingewechselt. Sie wurden dadurch zum ältesten Spieler und mit Ihrem Treffer nur eine Minute nach Wiederanpfiff auch zum ältesten Torschützen in der Geschichte der Weltmeisterschaft. Was für ein Gefühl war das in diesem Moment?

Auch wenn wir das Spiel am Ende verloren haben, war es ein Gefühl der Freude und Genugtuung. Das sieht man schon an meinem Jubel. Noch heute bin ich sehr stolz auf diesen Moment. Es gab damals einige Leute, die an mir zweifelten. Mit diesem Tor und diesem Rekord habe ich allen bewiesen, dass ich trotz meines Alters noch zu guten Leistungen fähig bin. Physisch war ich vielleicht nicht mehr voll auf der Höhe, doch ich hatte nichts von meinen technischen Fähigkeiten eingebüßt. Es ist ein schöner Rekord.

Macht Sie dieses Tor im Rückblick auf Ihre sportliche Karriere am meisten stolz?

Nein, das würde ich so nicht sagen. Das Tor damals war eine gute Einzelaktion, doch den größten Stolz verspüre ich auch heute noch darüber, dass ich Kamerun bei der Weltmeisterschaft 1990 helfen konnte, bis ins Viertelfinale vorzudringen. Das war ein historischer Moment für unser Land und für den gesamten afrikanischen Kontinent.

Als Sie vor 26 Jahren mit Ihrem Team zur WM in die Vereinigten Staaten reisten, haben Sie da an diese Rekorde gedacht?

Wenn ich das Spielfeld betrete, verschwende ich überhaupt keinen Gedanken an irgendwelche individuellen Leistungen – schon gar nicht vor einem solchen Turnier. Die Idee, dass ich diesen Rekord aufstellen könnte, kam mir wirklich nicht in den Sinn. Wenn ich ein Tor schieße, wir am Ende aber nicht gewinnen, dann bin ich genauso enttäuscht wie meine Mitspieler. Unser Ziel bei der WM in den USA war, noch besser als 1990 abzuschneiden. Leider haben wir das nicht geschafft.

Wo würden Sie Ihre Leistung im Reigen all der großen WM-Rekorde einordnen?

Jeder Rekord ist etwas Einzigartiges und Besonderes. Für mich gibt es da keine Rangfolge. Wissen Sie, jeder dieser Spieler hat die Weltmeisterschaft auf seine eigene Weise geprägt. Als Torjäger stehen mir die Rekorde von Klose und Just Fontaine natürlich sehr nahe, aber ich würde sie nicht kategorisieren. Mein Rekord reiht sich einfach mit ein. Für mich gibt es eigentlich nur eine Rekordmarke, die über allen anderen thront – König Pelé und seine drei WM-Titel. Worte können nicht beschreiben, was er in so jungen Jahren schon vollbracht hat.

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Glauben Sie, dass Ihr Rekord eines Tages gebrochen wird?

Nichts ist unmöglich, aber es wird sehr schwer. Angesichts der Entwicklungen des modernen Fussballs ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein Spieler mit 42 Jahren noch für eine WM nominiert wird – Torhüter ausgenommen, doch diese zeichnen sich eher selten als Torschützen aus. Daher glaube ich, dass mein Rekord noch einige Zeit Bestand haben wird.

An jenem Tag 1994 markierte Oleg Salenko gleich fünf Treffer – ein weiterer Rekord, der bis heute Bestand hat. Waren Sie beeindruckt?

Von einer solchen Leistung kann man nur beeindruckt sein, vor allem bei einer Weltmeisterschaft! Doch ich muss dazu sagen, dass wir es dem Gegner auch sehr leicht gemacht haben. In jenem Spiel waren wir einfach nicht gut genug. Am Ende haben sich Oleg Salenko und meine Wenigkeit in die Geschichtsbücher eingetragen. Deshalb haben wir nach Abpfiff ein gemeinsames Foto gemacht.

Was hat Sie damals unmittelbar nach Abpfiff am meisten mitgenommen, die deftige 1:6-Niederlage oder Ihr Rekord?

Es waren gemischte Gefühle, da unsere WM-Reise durch die Niederlage beendet war. Wir waren natürlich sehr enttäuscht, dass wir die in uns gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnten. Ich wusste außerdem, dass es mein letztes Spiel bei einer Weltmeisterschaft sein würde und ich Abschied nehmen musste. Also habe ich versucht, alles richtig einzuordnen und jeden Moment zu genießen. Unter diesen Umständen denkt man nicht an einen Rekord, weil er in dem Augenblick völlig nebensächlich ist. Erst im Laufe der Zeit gewinnt die Leistung an Bedeutung und ich bin heute sehr stolz darauf.

Wie denken Sie heute – mit 26 Jahren Abstand – darüber?

Mit gewissem Abstand versuche ich, das Positive mitzunehmen, also den Rekord. Es mischt sich dennoch etwas Wehmut dazu, da ich bei meiner letzten WM-Teilnahme gern etwas länger im Turnier geblieben wäre und mich lieber mit einem besseren Ergebnis verabschiedet hätte.

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Sprechen wir über die Weltmeisterschaft 1990. Damals sind Sie mit Kamerun als erstes afrikanisches Team überhaupt bis ins Viertelfinale vorgestoßen. Erinnern Sie sich noch an Ihre Gefühlswelt zu jener Zeit?

Es war unbeschreiblich, ein Gefühl unbändiger Freude. Wir waren sehr glücklich. Dieser Erfolg gab uns enormes Selbstvertrauen. Wir wären gern über das Viertelfinale hinaus im Turnier geblieben, denn das Potenzial dazu hatten wir. Ich möchte gar nicht groß über das Spiel gegen England sinnieren, doch aus heutiger Sicht, mit etwas Abstand, bedauere ich den Ausgang ein wenig. Ich bin überzeugt, dass wir noch mehr hätten erreichen können. Bei unserer Rückkehr nach Kamerun wurden wir wie Helden empfangen. Da wird einem erst bewusst, dass man wirklich Großartiges geleistet haben muss.

Mit Ihrem Erfolg damals haben Sie anderen afrikanischen Mannschaften gewissermaßen den Boden bereitet. Am Ende konnten jedoch nur Senegal 2002 und Ghana bei der WM 2010 in Ihre Fußstapfen treten und ebenfalls bis ins Viertelfinale vordringen. Was fehlt dem afrikanischen Fussball, um es unter die letzten Vier zu schaffen?

Senegal und Ghana haben gezeigt, dass es möglich ist. Wir sind vom Fussball in Europa noch immer weit entfernt. Daher ist es schwierig, dieses Niveau zu erreichen. Doch ich bleibe optimistisch. Ich habe das Gefühl, dass es der heutigen Generation wie uns damals bisweilen an Vertrauen und Entschlossenheit fehlt. Wir Afrikaner müssen an uns glauben, wenn wir derartige Leistungen bei allen Weltmeisterschaften abrufen wollen.

In Kamerun gab es Roger Milla, später Samuel Eto'o. Wer hat Ihrer Meinung nach das Zeug dazu, die Nationalmannschaft Ihres Landes in die Zukunft zu führen?

Ich weiß es nicht. Im Moment sehe ich keinen Spieler, der aus der Menge herausragt. Vielleicht ist es auch besser so. Dadurch haben wir die Möglichkeit, uns voll und ganz auf das Kollektiv zu konzentrieren. Ich sehe derzeit keinen Spieler mit meinen Qualitäten. Samuel Eto'o hat auch viel erreicht. Wir sind einzigartige Spieler, doch es ist niemand Vergleichbares in Sicht. Wir können nur hoffen, dass Kamerun in Zukunft wieder glänzen wird.

Roger Milla of Cameroon celebrates scoring his first goal during the 1990 FIFA World Cup between Cameroon and Colombia

Glauben Sie, dass sich Kamerun erneut für das Viertelfinale einer Weltmeisterschaft qualifizieren oder sogar noch mehr erreichen kann?

Ich hoffe es auf jeden Fall, auch wenn ich weiß, dass es sehr schwierig wird. Und doch sind es Leistungen wir unsere damals, die andere Generationen träumen lassen. Um diesen Traum zu verwirklichen, müssen die großen afrikanischen Spieler mehr Verantwortung in ihren Nationalmannschaften übernehmen, was bis dato nicht immer der Fall ist.

Sadio Mané, Mohamed Salah, Pierre-Emerick Aubameyang oder Riyad Mahrez – viele afrikanische Spieler glänzen derzeit im Weltfussball. Hat der afrikanische Kontinent Ihrer Meinung nach wieder Anschluss an das Niveau in Europa und Südamerika gefunden?

Was das Talent betrifft, wird die Kluft zwischen den afrikanischen Spielern auf der einen und den europäischen sowie südamerikanischen Spielern auf der anderen Seite Tag für Tag kleiner. Ich glaube, dass wir uns im Kollektiv noch weiter verbessern müssen. Dazu können Spieler wie Mané oder Salah mit ihren herausragenden Fähigkeiten sehr viel beitragen. Sie spielen bei großen Klubs und wissen, wie man ein ganzes Team auf ein gemeinsames Ziel einschwört. In einigen Jahren wird es keinen Unterschied zwischen ihnen und uns mehr geben. Wenn wir aus unseren Fehlern lernen und zusammenarbeiten, dann können wir eines Tages Großes erreichen.