Dienstag 15 Juni 2021, 16:29

Mancini: "Die Unberechenbarkeit ist die Essenz des Fussballs"

  • Roberto Mancini ist mit Italien eine beachtliche Wende gelungen

  • Die letzte Niederlage der Azzurri liegt fast drei Jahre zurück

  • Mancini über seine Angriffsrevolution und seine besondere Motivation bei der WM

Im Fall von Roberto Mancini sind Zahlen oft wenig aussagekräftig.

Ein Paradebeispiel dafür ist seine Bilanz von null WM-Teilnahmen als Spieler. Wer ihn nie in Aktion gesehen hat, könnte aus dieser Zahl schließen, dass Mancini als Fussballer nichts Besonderes war. Tatsächlich ist jedoch das Gegenteil der Fall.

Sven-Göran Eriksson, sein Trainer bei Sampdoria Genua und Lazio Rom, ist einer von vielen, die diesen fantastischen Trequartista als "Fussballkünstler" und "Genie" über den grünen Klee loben. "Er sah Dinge auf dem Platz schneller als jeder andere", so der Schwede begeistert. "Seine Spielübersicht war unglaublich."

Mancini selbst bezeichnet seine wenig beeindruckende Länderspielkarriere als "absurd" – eine lange, unglückliche Geschichte von Pech, dem Durchbruch von Roberto Baggio und zwei Auseinandersetzungen mit Trainern, die ihn teuer zu stehen kamen.

Dass er nun selbst italienischer Nationaltrainer geworden ist, kommt für ihn laut eigener Aussage einer "zweiten Chance" gleich. Diese Chance hat der 56-Jährige auf jeden Fall genutzt. Vor seiner Amtsübernahme war es den Italienern zum ersten Mal seit 60 Jahren nicht gelungen, sich für die WM zu qualifizieren, und das Team war als das schlechteste aller Zeiten verschrien. Inzwischen sind die Azzurri seit 28 Spielen ungeschlagen und haben ihre letzten neun Partien mit einem Torverhältnis von 28:0 gewonnen.

Doch auch diese Zahlen – so beeindruckend sie auch sein mögen – sind nur ein Teilaspekt der ganzen Geschichte. Sie sind ebenso beachtlich wie der radikale Wandel der Spielweise, den Mancini herbeigeführt hat, denn die zahlreichen Siege und Tore sind mit einem risikofreudigen Angriffsfussball zustande gekommen, der mit der italienischen Tradition nur wenig gemein hat.

An Gesprächsstoff mangelte es daher nicht, als Mancini kurz nach dem 3:0-Sieg seines Teams gegen die Türkei, der sein Team in der Favoritenliste der UEFA EURO 2020 ganz nach oben katapultierte, mit FIFA.com sprach.

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FIFA.com: Roberto, Sie haben kürzlich einen neuen Fünfjahresvertrag unterschrieben. Diese Vertragslänge ist, insbesondere im modernen Fussball, eher ungewöhnlich. Ist das ein Beleg dafür, dass Ihnen diese Aufgabe ausgesprochen viel Spaß macht?

Roberto Mancini: Wir wollen gemeinsam auf einen Weltmeistertitel hinarbeiten. Deshalb ergibt das Ganze Sinn, denn [diese Vertragslänge] zeigt, dass es sich um ein langfristiges Projekt handelt. Wenn man bedenkt, an welchem Punkt wir vor drei Jahren gestartet sind, läuft es für uns im Moment sehr gut. Das haben wir den jungen und talentierten Spielern zu verdanken, die jetzt an Bord sind. Ich glaube, dass Italien in den kommenden Jahren erfolgreich sein wird.

Sie waren früher selbst Nationalspieler. War es für Sie nach dem Einschlagen der Trainerlaufbahn immer ein Traum, italienischer Nationaltrainer zu werden?

Ja. Zu Beginn meiner Länderspielkarriere war ich noch ein Teenager. Ich habe zwar in extrem starken Nationalteams mit vielen talentierten Spielern gespielt, hatte aber nie Glück mit den Ergebnissen. Nehmen wir zum Beispiel die WM 1990 im eigenen Land. Wir haben während des gesamten Turniers nicht ein einziges Spiel verloren und sind am Ende mit sechs Siegen und einem Unentschieden Dritter geworden. Das ist doch verrückt! Ich hoffe, dass wir uns für all die verpassten Chancen in der Vergangenheit revanchieren werden.

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Trotz Ihres Talents und Ihrer fantastischen Vereinskarriere hatten Sie nie die Chance, bei einer Weltmeisterschaft zu glänzen [1990 ohne Einsatz im Kader]. Wie sehr haben Sie das bedauert und ist es dadurch für Sie besonders wichtig, als Trainer Ihre Spuren bei diesem Turnier zu hinterlassen?

Da ich meine Karriere sehr jung begonnen habe, hätte ich eigentlich bei vier Weltmeisterschaften und vier Europameisterschaften spielen können. Schön wär's gewesen! Aus unterschiedlichen Gründen hatte ich allerdings nicht den Erfolg, den ich mir gewünscht hätte – einmal abgesehen von einem Europameistertitel auf U-16-Ebene. Also, ja, ich hoffe, dass ich als Trainer alles erreichen kann, was ich als Spieler verpasst habe.

Sven-Göran Eriksson hat vor Kurzem darüber gesprochen, wie es war, Sie zu trainieren. Er hat betont, wie sehr er sie als Spieler und als Mensch mochte, aber auch, wie unglaublich anspruchsvoll Sie waren und dass Sie immer gebrannt haben. Wäre es für Mancini, den Trainer, eine schöne Herausforderung, Mancini, den Spieler, zu trainieren?

Ich würde gern mit einem so talentierten, technisch versierten und motivierten Spieler zusammenarbeiten! Ich sehe diese Eigenschaften positiv. Sven war für mich ein Lehrmeister – ein toller Trainer, der mir viel beigebracht hat. Ich muss mich noch einmal bei ihm bedanken. Er ist ein super Typ.

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Wie kommen Sie mit dem Druck zurecht, der Hoffnungsträger einer fussballverrückten Nation zu sein? Kann man sich dem entziehen?

Nein! Das ist schließlich Italien! In unserem Land gibt es 60 Millionen Trainer und es ist unmöglich, sich ihnen zu entziehen. Aber gleichzeitig zeigt das auch die starke Verbindung der Italiener zu ihrem Nationalteam, besonders bei den Endrunden großer Turniere. Die Italiener lieben den Fussball einfach sehr, und das ist fantastisch.

Wie haben Sie den Trainerjob während der Pandemie erlebt, von Spielen vor leeren Stadien bis hin zu logistischen Problemen. Außerdem haben Sie sich ja sogar selbst mit COVID infiziert. War all dies eine ihrer größten Herausforderungen als Trainer?

Das war ohne Zweifel eine große Herausforderung für mich persönlich, wobei es für die Menschen überall eine schwere Zeit war. Niemand hatte so etwas je erlebt, und wir können nur hoffen, dass wir solche Dinge nie wieder erleben werden. Familien haben Angehörige verloren, die persönliche Freiheit der Menschen wurde eingeschränkt. Das war für alle das Schlimmste, was passieren konnte. Uns Sportlern ging es nicht anders, und es blieb uns nichts anderes übrig, als uns an die Gegebenheiten anzupassen.

Der brasilianische Nationaltrainer Tite hat sich kürzlich in einem Interview mit uns sehr lobend über Sie geäußert, und zwar nicht nur bezüglich der Ergebnisse, sondern auch, weil Sie die Spielweise des Teams grundlegend verändert haben. Freut Sie ein solches Lob von einem Kollegen, der ebenfalls ein Nationalteam der Spitzenklasse trainiert?

Tite ist ein hervorragender Trainer und er stammt aus der genialsten, kreativsten Fussballnation der Welt – aus einem Land, in dem du als respektlos gelten kannst, wenn du nicht offensiv spielen lässt. Ich freue mich sehr darüber, dass Italien solches Lob bekommt. Gleichzeitig sollten wir allerdings nicht vergessen, dass die vergangenen Erfolge unseres Landes, also vier WM-Titel und eine Europameisterschaft, mit einer ziemlich defensiven Spielweise errungen wurden. Jedes Land hat seinen eigenen Stil, und Italiens Defensivqualitäten sind noch heute entscheidend. Um eine gute Mannschaft zu entwickeln, musst du das perfekte Gleichgewicht zwischen Angriff und Defensivwissen herstellen.

Hatten Sie schon bei Amtsantritt vor, die Waagschale etwas zu kippen und Italien risikofreudiger, offensiver spielen zu lassen?

Ich habe das Ruder in einem sehr schwierigen Augenblick übernommen, aber wir wollten es ganz anders machen als vorher. Wir haben viele junge, talentierte Spieler ins Team gebracht, die wir für geeignet hielten, eine andere Spielweise umzusetzen und offensiver zu agieren als früher. Ich habe bisher bei jedem meiner Teams versucht, einen solchen Ansatz umzusetzen. Manchmal hast du damit Erfolg, manchmal nicht. Aber in diesem Fall war es genau der richtige Zeitpunkt, unseren Fans ein attraktives Nationalteam zu präsentieren, dem man gerne zuschaut.

Es heißt, Sie hätten es geschafft, attraktiver zu spielen und in den drei Jahren eine ganze Serie hervorragender Ergebnisse zu erzielen, obwohl Ihnen die Weltstars früherer Generationen fehlen. Was sagen Sie dazu?

Es stimmt schon, dass es Zeiten gab, in denen der italienische Fussball mehr dieser meisterhaften Weltklassespieler hatte. Es ist schwer zu sagen, warum es derzeit an diesen Megatalenten mangelt. Andererseits steht in Italien eine neue Generation hervorragender Fussballer vor dem Durchbruch, und diese Youngster sind gut genug, um auf der internationalen Bühne zu spielen und eines Tages zu Weltstars zu werden. Das ist nur eine Frage der Zeit. Wir hoffen, dass wir sie zum Sieg führen und ihnen dabei helfen können, ihre Ziele zu erreichen.

Sie wurden zum Nationaltrainer ernannt, nachdem Italien sich nicht für die letzte WM qualifiziert hatte. Inwieweit war es ein nationales Trauma, bei der WM 2018 in Russland zum Zuschauen verdammt zu sein, und war dies seitdem gleichzeitig eine Quelle der Motivation?

Das war für niemanden einfach, auch nicht für mich, denn ich bin über 50 und habe mein Nationalteam immer bei der WM spielen sehen. Aber das Unerwartete ist das wirklich Faszinierende, die Essenz des Sports, auch wenn wir in diesem Fall darunter leiden mussten. Wir hoffen, dass es nicht wieder vorkommt, und dafür müssen wir hart arbeiten und unsere Leistung bringen, denn wir spielen in einer Zeit, in der viele Nationalteams oben mitspielen können.

Glauben Sie, dass Sie gut aufgestellt sind, um bei der EURO über die volle Distanz zu gehen? Welche anderen Teams sehen Sie als Titelfavoriten?

Viele Teams, zum Beispiel Weltmeister Frankreich und Europameister Portugal, sind im Augenblick stärker als wir. Gleiches gilt für die Teams, die in den letzten fünf Jahren auf hohem Niveau gespielt haben. Sie können auf viel mehr erfahrene Spieler zählen als wir. Wir haben dieses Projekt erst vor drei Jahren gestartet und kommen erst jetzt langsam an dieses Niveau heran. Aber wie ich bereits sagte: Die Unberechenbarkeit ist die Essenz des Fussballs.

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