Montag 11 Mai 2015, 08:21

Klinsmann: "Müssen eine Turniermannschaft werden"

U.S.-Nationaltrainer Jürgen Klinsmann spricht exklusiv über das neue Selbstverständnis des amerikanischen Soccer – auf Augenhöhe mit den Gegnern. Der deutsche Trainer und Ex-Weltmeister spricht darüber, was es braucht, um den großen Namen im internationalen Fussball Paroli bieten zu können und warum sich die Stars and Stripes zu einer ‘Turniermannschaft’ entwickeln müssen, wenn sie sein öffentlich verkündetes Ziel vom Halbfinaleinzug bei der WM 2018 in Russland erreichen wollen. FIFA.com führte ein offenes Gespräch mit dem Teamchef der USA, dessen Begeisterung für den Fussball in seiner Wahlheimat in jeder Hinsicht ansteckend ist.

Als Sie 2011 den Posten als amerikanischer Nationaltrainer übernahmen, haben Sie einen neuen Stil angekündigt – mehr Eigeninitiative, nicht nur Reaktion auf den Gegner. Haben Sie das Ziel erreicht? Wir haben diesen Übergang von der reagierenden Spielweise hin zu mehr Eigeninitiative auf Augenhöhe eingeleitet, weil dies die Spielweise der besten Teams der Welt ist. Wenn man sich weiter entwickeln und Fortschritte machen will, muss man sich an den besten Teams der Welt orientieren und versuchen, sich ihnen anzunähern.

Wie macht sich das konkret bemerkbar? Wir ziehen uns nicht mehr so weit zurück. Wir versuchen, mit den großen Teams auf Augenhöhe mitzuspielen. Wir haben unser gesamtes Spiel etwas weiter nach vorn verlagert. Jetzt setzen wir den Gegner schon früh unter Druck. Schritt für Schritt lernen wir, das Spiel aus der Abwehr heraus aufzubauen. All dies sind Bestandteile einer proaktiveren Spielweise. Aber noch sind wir in der Phase, alles zusammenzufügen. Das dürfte noch Jahre dauern.

Bei der WM im vergangenen Sommer haben sie sich gegen einige große Teams ziemlich gut geschlagen. Wie bewerten Sie den Sieg gegen Ghana oder das Unentschieden gegen Portugal in der Gruppenphase? Viele waren überrascht, dass wir selbst gegen so starke Gegner wie Ghana und Portugal versucht haben, unsere eigene Spielweise durchzusetzen. Wir haben den Sprung aus dieser "Todesgruppe" geschafft. Das war eine ziemlich starke Leistung. Gegen Deutschland und gegen Belgien haben wir dann etwas nachgelassen und sind zum Teil wieder in unsere frühere Spielweise verfallen. Wir hatten einfach ein bisschen zu viel Respekt vor diesen Gegnern.

Betreffen die von Ihnen angestrebten Veränderungen nur das Geschehen auf dem Platz? Nein, es geht auch um eine Veränderung der mentalen Einstellung. Man muss den Spielern den Glauben an sich selbst vermitteln, damit sie auch bei Spielen gegen große Gegner denken ‘Packen wir's an!’ Auch dieser mentale Prozess kann Jahre dauern. Wir stecken gerade mittendrin und es ist eine sehr interessante Erfahrung.

Brauchen Sie einen neuen Spielertyp, um diese neue Spielweise umzusetzen? Nein, eigentlich nicht. Jeder Trainer auf der Welt arbeitet mit den Spielern, die ihm zur Verfügung stehen. Diese Spieler haben ihre Stärken und ihre Schwächen. Man versucht, die Schwächen zu verdecken und auf den Stärken aufzubauen. Die Formation spielt eigentlich keine Rolle. Es geht mehr darum, wie auf dem Platz alles ineinander greift. Und das ist eben auch ein Lernprozess. Wir müssen auf die Schnittstellen achten, vom Torhüter und der Viererkette bis hin nach vorn zu den Stürmern. Es gibt diese kollektive Bewegung bei Teams wie Deutschland und Spanien – bei den großen Teams eben. Man erkennt, wie eng und kompakt sie agieren, wenn sie verteidigen müssen, und wie schnell sie das Spiel öffnen, wenn es in den Angriff geht. Man versucht, den Spielern diese Komponenten beizubringen. Dies muss man den Spielern nahe bringen, egal, welches System man befolgt.

Sie haben mit vielen Spielern experimentiert und viele neue Gesichter aus ganz unterschiedlichen Ländern integriert. Die Spieler kommen aus Europa und aus Mexiko, aus der NASL und sogar von Universitäten. Wonach suchen Sie bei Spielern? Wir fühlen uns verpflichtet, unsere großen Turniere zu gewinnen. Das gilt beispielsweise auch beim CONCACAF Gold Cup in diesem Sommer, bei dem wir uns hoffentlich für den Konföderationen-Pokal 2017 qualifizieren. Aber darüber darf man die Förderung und Entwicklung junger Spieler nicht vergessen. Derzeit befinden wir uns in einer Entwicklungssituation. Natürlich wollen wir unsere Freundschaftsspiele alle gewinnen, doch sie geben uns eben auch die Möglichkeit, die Entwicklung von Spielern voranzutreiben. Ich stelle damit die Frage ‘Wie gut bist du?’ ‘Ist dir klar, was es bedeutet, auf internationalem Niveau zu spielen?’ Wir haben auch Spieler in Europa und in Südamerika und in Mexiko. Man kann sie nur zusammenbringen, indem man sie einsetzt und sie sozusagen ins kalte Wasser wirft.

Hat sich die Fussballkultur in Amerika seit der WM in Brasilien verändert? Die WM hat uns einen enormen Schub verliehen. Die Leute haben gemerkt, wie aufregend und wie emotional Fussball sein kann. Erstmals gab es im ganzen Land große Public-Viewing-Veranstaltungen. Die Sportkneipen waren zum Bersten voll und viele Leute haben sich von der Arbeit fortgestohlen, um die Spiele sehen zu können. Die treibende Kraft hinter diesem gesteigerten Interesse in unserem Land ist das Nationalteam. Das bedeutet emotional eine ganze Menge. Wir versuchen, darauf aufzubauen. Wir haben unsere Nische gefunden und diese Nische wächst sehr, sehr schnell.

Sie haben öffentlich erklärt, Ihr Ziel bei der FIFA Fussball-WM Russland 2018™ sei das Erreichen des Halbfinales. Ist das realistisch? Wir haben die Latte sehr hoch gelegt, denn wir wollen den Spielern klar machen, was wirklich nötig ist, um ein Halbfinale zu erreichen. Bei der WM 2014 in Brasilien haben wir Ghana und Portugal hinter uns gelassen. Wir hätten fast ein Unentschieden gegen Deutschland geschafft und auch gegen Belgien hätten wir fast gewonnen. Das sind wirklich große Namen. Den Spielern wird also allmählich klar, dass sie auch große Nationen schlagen können, wenn an dem Tag alles gut läuft. Jetzt müssen wir ihnen beibringen, wie es weitergeht, wenn das Achtelfinale überstanden ist. Wir müssen erfahren, was zum Gewinn eines Viertelfinales nötig ist, um es in ein Halbfinale zu schaffen. Dafür ist vor allen Dingen Konstanz erforderlich. In den nächsten dreieinhalb Jahren müssen wir den Spielern immer wieder klar machen, dass alles möglich ist. Man kann es schaffen, allerdings muss man dabei lernen, eine Turniermannschaft zu werden.

Worin unterscheidet sich eine Turniermannschaft von einer guten Mannschaft? Eine Turniermannschaft ist keine Mannschaft, die in der Qualifikation glänzt aber dann bei der Endrunde keine hohen Erwartungen hat. Das sind zwei verschiedene Welten. England qualifiziert sich immer problemlos für die WM, aber dort strauchelt das Team dann - aus welchen Gründen auch immer. Man muss mit jedem absolvierten Spiel stärker werden, so dass die Leistungskurve nach oben zeigt und einem nicht schon nach der Gruppenphase die Luft ausgeht. Dahinter steht ein enormer Lernprozess. Es geht um technische, taktische und mentale Aspekte. Man muss den Spielern klar machen, worum es wirklich geht. Man muss alles perfekt im Griff haben, nicht nur sechs, sondern acht Wochen lang. Wir haben diesen Lernprozess für 2018 bereits eingeleitet. Wir werden Fans, Medien und Spielern unsere Ziele klarmachen und jeder wird erkennen, dass wir uns sehr hohe Ziele gesetzt haben.

Sie selbst standen nicht nur in einem Halbfinale sondern haben 1990 sogar die WM gewonnen. Wie wichtig ist das für Sie als Trainer? Erfahrung ist natürlich immer hilfreich. Man kann den Spielern raten, sich von bestimmten Dingen nicht nervös machen zu lassen und sich keine allzu großen Gedanken über dies und das zu machen. Ich habe es selbst erlebt, und zwar nicht nur die guten Seiten. Ich kann auch zu den weniger guten Seiten einiges weitergeben. Schließlich habe ich zwei Weltmeisterschaften verloren. Eine habe ich gewonnen, aber zwei verloren. Ich kann erklären, warum ich in manchen Situationen bei großen Turnieren gescheitert bin. Wenn die Spieler das verstehen, dann vertrauen sie dir. Es hilft schon sehr, wenn man ihnen Beispiele dafür geben kann, woran es lag, dass sie gescheitert sind oder warum sie weitergekommen sind. Es ist ein sehr schmaler Grat.

Sie wurden wegen negativer Anmerkungen über die Major League Soccer kritisiert. Können Sie Ihre Ansichten klarstellen? Ich habe gar keine negativen Anmerkungen gemacht. Es wurde in den Medien zwar so dargestellt, aber das stimmt nicht. Ich habe gesagt ich wünsche mir, dass unsere Spieler es auf das höchstmögliche Niveau schaffen… Viele Leute dachten, dies wäre abwertend in Bezug auf unsere eigene Liga. Aber so habe ich es überhaupt nicht gemeint. Die MLS entwickelt sich unglaublich schnell, das kann niemand bestreiten. Die Kluft zu den großen Ligen in Europa wird schmaler. Diese Entwicklung ist für uns in der Nationalmannschaft von größter Bedeutung. Ich stehe voll und ganz hinter der MLS. In meinem WM-Team in Brasilien standen elf oder zwölf Spieler aus der Liga.

Aber trotzdem wünschen Sie sich, dass die Spieler das höchste Niveau anstreben? Ich habe sogar die Verpflichtung, jedem einzelnen Spieler zu raten, nach dem höchstmöglichen Ziel zu streben. Kein Fan und kein Trainer hätte etwas dagegen, wenn ein Amerikaner für Bayern München oder Real Madrid oder den FC Barcelona spielen würde. Als Profi muss man genau danach streben.

Worin liegen nach die besonderen Stärken der Amerikaner? Die Spieler sind aufgeschlossen und erfolgshungrig. Sie wollen etwas lernen, in sich aufnehmen. In gewisser Weise sind sie wie Schwämme. Sie sind gute Zuhörer…

Sie wirken an der Seitenlinie immer noch überaus enthusiastisch… Ein Trainer will seinem Team immer helfen… Den Spielern ein bisschen Input geben. Man weiß allerdings nicht, wie viel sie tatsächlich aufnehmen, denn auf dem Feld sind Spieler emotional und nervös. Sie sind ganz aufgedreht und stehen mitten in einem extrem schnellen Wettbewerb. Oft verpuffen die Trainerbotschaften wirkungslos. Letztlich müssen die Spieler selbst ihr Spiel machen.

An welchen Qualitäten müssen die amerikanischen Spieler noch arbeiten? Wir müssen uns noch verbessern, was das Lesen des Spiels angeht. Das taktische Verständnis für bestimmte Aspekte können wir noch optimieren, beispielsweise das weite Aufrücken oder das schnelle Umschalten von Abwehr auf Angriff und wieder zurück. Immer die Verbindung zwischen den einzelnen Mannschaftsteilen halten. Die mentale Aufmerksamkeit, nicht abschalten – daran müssen wir noch arbeiten. Aber das kommt mit der Erfahrung und der Konkurrenz. Je mehr Erfahrung und Konkurrenz die Spieler bekommen, desto schneller stellt sich der Erfolg ein und desto konstanter werden sie. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es auch in diesen Bereichen besser wird. Wir werden weiter aufholen. Die positiven Aspekte überwiegen die negativen. Der Fussball in Amerika ist im Aufwind.