Kein Weber, kein Wembley-Tor

Es gibt Ereignisse im Fussball, die kennt jedes Kind. Knallt ein Ball gegen die Unterlatte schallt noch heutzutage sofort der Begriff "Wembley-Tor" über den Bolzplatz. Allerdings ist zu bezweifeln, dass die Protagonisten die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft England 1966™ live verfolgt haben, sondern wohl meist nur aus den Geschichtsbüchern oder alten Video-Aufnahmen kennen.

Für Wolfgang Weber verhält sich dies anders. Deutschlands knallharter Abwehrrecke stand damals vor 96.924 Zuschauern die vollen 120 Minuten im Wembely-Stadion auf dem heiligen Londoner Grün. Ohne die Nummer sechs wäre es wahrscheinlich nie zu der berühmtesten Tor-oder-kein-Tor-Frage der Fussball-Geschichte gekommen und Geoff Hurst hätte wohl nie seinen bis heute unerreichten Torrekord - Hurst erzielte einen Dreierpack im WM-Finale - aufgestellt.

Der "Bulle" hatte vielleicht die beste Sicht auf das vorentscheidende 3:2 in der 101. Spielminute und köpfte den Ball, nachdem er von der Unterlatte auf den Boden sprang, ins Toraus. Außerdem erzwang Weber in der 89. Spielminute durch seinen 2:2-Ausgleich überhaupt erst die Verlängerung. FIFA.com hatte also reichlich Gesprächsstoff mit dem Kölner Jungen.

Herr Weber, die FIFA WM 1966 in England feiert 50-jähriges Jubiläum und... ...Sie wollen jetzt aber nicht wissen, ob der Ball drin oder nicht drin war, oder?

Diese Frage beschäftigt Sie also noch heute? Natürlich! Lassen Sie mich meine Antwort in einer Geschichte verpacken. 2006 reiste ich mit Franz Beckenbauer in das neue Wembley-Stadion. Wussten Sie, dass es dort in den Katakomben zwei Eingänge gibt? Auf einem steht "YES" auf dem anderen "NO". Der Franz und ich sind natürlich durch den Eingang "NO" gegangen!

Wenn Sie an England 66 zurückdenken, ist es dann dieses eine Tor, was Ihnen als erstes in den Sinn kommt? Nein. Wenn ich an das Turnier denke, dann muss ich vor allem an die freundschaftliche Atmosphäre denken. Wir wurden in unserem WM-Camp im Hotel Peveril of the Peak in Ashbourne von den englischen Fussball-Fans und den Einwohnern herzlich empfangen und beherbergt. Wir hatten dort ideale Bedingungen und ich glaube, dass das auch der Grundstein für unser erfolgreiches Abschneiden war. Auch die Stimmung im Stadion war stets sehr fair. Das werde ich nie vergessen.

Man kann mit Fug und Recht behaupten: Kein Weber, kein Wembley-Tor. Das stimmt wohl. Wenn ich den Ausgleich nicht geschossen hätte, wäre es nicht zur Verlängerung gekommen und Geoff Hurst hätte seinen WM-Rekord vielleicht nicht aufgestellt. Ich bin also in gewisser Weise schon Schuld am Wembley-Tor.

Bildlich gesprochen, saßen Sie dann während des Tores in der ersten Reihe. Auch das ist korrekt. Das war auch der Grund, warum ich so erregt war. Nachdem ich den Ball zur Ecke geklärt hatte, sah ich, dass die Engländer um mich herum die Arme zum Jubeln in die Höhe gerissen hatten. Ich konnte das nicht begreifen, denn auch sie mussten doch gesehen haben, dass der Ball nicht hinter der Linie war. Ich habe also zu Bobby Charlton, der direkt neben mir stand, gesagt: 'Hör auf damit, hör auf zu jubeln!' und habe ihm die Arme nach unten gerissen. Dann habe ich erkannt, dass nicht der Schiedsrichter Gottfried Dienst auf Tor entschieden hatte, sondern der Linienrichter Tofik Bakhramov. Gemeinsam mit den anderen jungen Spielern, Franz Beckenbauer und Sigi Heldt, bin ich dann an die Seite gerannt und wir haben versucht den Linienrichter zu überzeugen, die Entscheidung rückgängig zu machen. Aber unser Kapitän Uwe Seeler hat uns dann zurückgepfiffen und wir mussten es akzeptieren und weitermachen.

Wie ist denn das Verhältnis zu den englischen Spielern nach dem Spiel gewesen? War man sauer aufeinander, weil man offensichtlich unterschiedlicher Meinung war? Nein. Nachtragend bin ich da nicht. Und es ist doch auch mehr als verständlich. Aber wir haben uns noch oft nach der WM getroffen und natürlich auch immer wieder über diese eine Szene diskutiert. Wir pflegen oder pflegten alle eine sehr sportmännische Freundschaft. Und ich glaube, nur Geoff Hurst beharrt bis heute wirklich darauf, dass der Ball drin war. Obwohl er es im Liegen nicht wirklich gute sehen konnte. Aber na ja, ich muss diese Meinung respektieren und tue dies auch. Wie fühlte es sich an, eine WM-Finale auf diese Art und Weise zu verlieren? Es war brutal! Die Momente direkt nach dem Abpfiff habe ich nur noch unscharf vor meinem geistigen Auge. Ich fühlte mich einfach nur leer. Ich weiß aber noch, dass sich die englischen Fans sehr fair verhalten haben und uns auf unserer Ehrenrunde frenetisch zugejubelt haben. Aber es fühlte sich extrem schmerzhaft an und deswegen bin ich auch ein Befürworter der eingeführten Torlinien-Technologie. Ich denke, die Frage "Tor oder kein Tor?" ist die wichtigste Frage im Fussball. Und diese Entscheidung sollte immer die Richtige sein! Als Schiedsrichter Dienst abpfiff, standen Sie direkt neben ihm. Sie hatten noch einen kurzen Wortwechsel. Was haben Sie dort ausgetauscht? Ja. Es war aber nichts Schlimmes. Herr Dienst konnte ja auch nichts dafür. Er konnte von seiner Position aus gar nicht erkennen, ob der Ball hinter, auf oder vor der Linie war. Er musste sich auf seinen Assistenten verlassen. Ich bin allerdings auch überzeugt, dass Herr Bakhramov dies nicht beurteilen konnte. Denn Hans Tilkowski, unser Tormann, hat ihm doch die Sicht genommen. Aber es ist so passiert und es ist mittlerweile auch vergeben und vergessen. England hatte den WM-Titel verdient und wir waren ein guter und ebenbürtiger Gegner. Das ist Fussball!

Was ist Ihnen fussballerisch in Erinnerung geblieben? Ich muss sagen, dass es ein unglaublich hartes Turnier war. Ich will nicht sagen, dass es überdurchschnittlich unfair war, aber es wurden bitter harte Zweikämpfe geführt. Wenn ich an unser Spiel gegen die Argentinier oder Uruguayer denke, dann gab es da Zweikämpfe, in denen es mächtig zur Sache ging. Zum Beispiel? Na ja, gegen die Argentinier traf es mich. Ein Foulspiel, von dem ich noch länger die Stollenabdrücke auf meinem Oberschenkel als Erinnerung mit mir rumtrug. Außerdem erinnere mich noch heute an den Knall, als Helmut Haller gegen Uruguay gefoult wurde und mit Silva der zweite Uruguayer des Feldes verwiesen wurde. Das Spiel Portugal gegen Brasilien ist mir ebenfalls noch sehr in Erinnerung geblieben wo Pelé einen sehr schweren Stand hatte und stets sehr hart attackiert wurde. Ich möchte damit aber nicht die Portugiesen oder sonst einen Spieler anklagen. Es war damals einfach so. Auch wir waren keine Waisenknaben! Wer an Horst-Dieter Hoettges, Karl-Heinz Schnellinger oder mir vorbei wollte, der war eben selber schuld. Ich denke, dass nicht umsonst nach dieser WM die Gelbe und Rote Karte eingeführt wurde, um dem Schiedsrichter in der Spielleitung ein weiteres Hilfsmittel zu geben.

Sind denn am Ende Ihrer Meinung die besten Teams in das Finale gekommen? Das ist immer hypothetisch und ich möchte nicht die Leistung anderer Nationen beurteilen. Wenn ich mir unsere Ergebnisse und Spiele anschaue, dann würde ich schon sagen, dass wir es verdient hatten, das Endspiel zu bestreiten. Wir sind Gruppenerster geworden und waren im Viertelfinale und Halbfinale gegen Uruguay und die Sowjetunion die bessere Mannschaft. Und auch im Finale schlugen wir uns wacker.