Donnerstag 19 Januar 2017, 10:48

Held und 'Monster' von Sevilla

"Heute sind die Keeper allgemein ruhiger als zu meiner aktiven Zeit. Ich hatte damals eine große Klappe und habe dafür oft den Kopf hinhalten müssen. Dazu gehört aber auch Mut. Am Ende ist es eine Charakterfrage."

Dies sagte Harald 'Toni' Schumacher 2011 in einem Interview mit FIFA.com und fasste damit einige der Eigenschaften zusammen, die ihn zu einem der wohl umstrittensten Fussballer seiner Zeit machten. Und in einem ebenso berühmten wie berüchtigten Spiel wurden seine Stärken ebenso wie seine Schwächen vor den Augen der ganzen Welt bloßgestellt.

Es war das packende Halbfinale zwischen Deutschland und Frankreich in Sevilla, ein Thriller mit sechs Toren, der als einer der unvergesslichen WM-Höhepunkte in die Turniergeschichte eingegangen ist. Michel Platini gehörte an diesem Abend zwar zu den Verlierern, doch obwohl er später auf europäischer Bühne mit Frankreich und seinem Klub noch Titel gewinnen sollte, bezeichnete er dieses Spiel in Spanien als "das schönste seiner Karriere."

"In diesen zwei Stunden waren alle Gefühle enthalten, die es im Leben gibt", sagte der Kapitän der Bleus von 1982 einmal. "Kein Film, kein Theaterstück könnte jemals derart viele Widersprüche und derart intensive Emotionen in sich vereinen. Es war einfach vollendet. Unglaublich intensiv. Einfach fabelhaft.

Schumacher stand während der dramatischen Partie immer wieder im Brennpunkt des Geschehens. Das Bild zeigt den deutschen Torhüter, wie er im Elfmeterschießen den Schuss von Maxime Bossis hält. Davor hatte er bereits den Schuss von Didier Six pariert und damit die Bühne bereitet für Horst Hrubesch, der den entscheidenden Elfmeter für Deutschland verwandelte und die Partie nach einer unglaublichen Aufholjagd letztlich zugunsten seines Teams entschied. "Die Spieler haben einen unglaublich starken Charakter bewiesen", sagte Trainer Jupp Derwall nach der Partie. Schließlich hatte die DFB-Auswahl zwölf Minuten vor Ende der Verlängerung noch mit 1:3 zurück gelegen.

Den von Derwall eingeforderten "verdienten Respekt" bekamen seine Schützlinge indes nicht, denn nach der Partie und auch in den Jahren seitdem wurde fast ausschließlich über die umstrittenste Szene des Spiels diskutiert. Weder Schumacher noch Patrick Battiston werden diese Kollision jemals vergessen. Der Franzose, der erst wenige Minuten zuvor eingewechselt worden war, verlor zwei Zähne, brach sich drei Rippen und trug zudem noch eine Wirbelverletzung davon, als er vom deutschen Schlussmann weit vor dem Tor angegangen wurde. Da Schumacher dabei keinerlei Chance hatte, den Ball zu spielen und anschließend völlig unbeeindruckt, ja sogar ungeduldig wirkte, während der schwer verletzte Battiston behandelt wurde, zog er noch mehr Kritik auf sich und galt von diesem Moment an als der große Bösewicht.

In seiner Biographie schrieb er später, er sei angesichts der Verletzung Battistons verlegen und nervös gewesen und habe sich deswegen in die andere Ecke des Strafraums verzogen. "Das war Feigheit", gibt er in dem Buch zu. "Vielleicht war ich da zum ersten Mal in meinem Leben wirklich feige."

Battiston seinerseits hegt keinen Groll mehr gegen Schumacher. "Ich habe ihm vergeben", sagte der Ex-Star von Saint-Etienne und Bordeaux. "Im Laufe der Zeit ist mir klar geworden, dass die Leute ihn wegen dieser Aktion regelrecht gebrandmarkt haben."

In Frankreich herrscht sogar die Ansicht, der Vorfall habe entscheidend dazu beigetragen, die Bleus zu einen, die zwei Jahre später prompt die Europameisterschaft gewannen. Gerard Houllier meinte einmal, die Menschen in Frankreich hätten "mit diesem Halbfinale angefangen, den Fussball zu lieben. Alle fanden, sie wären ein Opfer geworden – und in Frankreich sind Opfer beliebt. Wir sind zusammengerückt und zwei Jahre später waren wir Europameister!"

Schumacher musste sich im WM-Finale von 1982 geschlagen geben und schloss auch die WM vier Jahre später in Mexiko "nur" mit der Silbermedaille um den Hals ab. Doch niemand kann bestreiten, dass er auf der WM-Bühne einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen hat.

Hätten Sie's gewusst? Der Original-Spielball aus diesem unvergesslichen WM-Halbfinale gehört zu den einzigartigen Ausstellungsstücken im FIFA Welt Fussball Museum in Zürich.