Samstag 01 August 2020, 16:13

Farías: "Die Qualifikation ist ein Hindernisparcours"

  • Noch in Trauer sprach Boliviens Nationaltrainer mit FIFA.com

  • Er erinnert an César Salinas und bringt seinen Schmerz über dessen Tod zum Ausdruck

  • Mit Blick auf die Qualifikation erklärt er: "Wir haben Chancen"

César Farías ist noch immer geschockt. César Salinas, der Präsident des bolivianischen Fussballverbands, verstarb kürzlich an den Folgen einer Infektion mit dem Coronavirus. Das war ein harter Schlag für den Trainer der A-Nationalmannschaft, der diese Schreckensnachricht noch immer nicht ganz verarbeitet hat.

"Was passiert ist, ist sehr traurig. Du fühlst dich machtlos und frustriert, weil du diesen Unberechenbarkeiten nichts entgegensetzen kannst. Ich möchte seinen Lieben noch einmal mein herzliches Beileid aussprechen", so der Venezolaner, noch immer sichtlich bestürzt.

Farías räumt ein, dass ihm "Gespräche über den Fussball helfen, mit der Situation zurechtzukommen. Schließlich habe ich ihn durch den Fussball kennengelernt." Das dominante Thema ist im Augenblick natürlich der Beginn der Südamerika-Qualifikation für die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Katar 2022™. Der Turnierstart ist für Oktober angesetzt.

Für den 47-jährigen Venezolaner ist dies die dritte WM-Qualifikation. Bei den beiden ersten Teilnahmen als Nationaltrainer seines Heimatlandes konnte er im Vorfeld der WM 2010 in Südafrika in 14 Partien 38,33 Prozent der Punkte verbuchen, und in 16 Qualifikationsspielen für die WM 2014 in Brasilien 41,67 Prozent.

Nachdem er grünes Licht erhalten hat und Anfang August mit der Vorbereitung beginnen kann, möchte Farías diese Zahlen verbessern und Kolumbien zur ersten WM-Teilnahme seit 1994 führen. Im Interview mit FIFA.com spricht er unter anderem über dieses Ziel sowie über die Herausforderung, inmitten der Pandemie zu arbeiten.

FIFA.com: Wie ist es Ihnen aus beruflicher Sicht in der Pandemie ergangen?

César Farías: Der Lockdown hat uns die Möglichkeit gegeben, uns weiterzuentwickeln. Wir haben sehr viel gearbeitet, recherchiert, Erfahrungen mit Kollegen ausgetauscht und täglich mit den Spielern gesprochen. Wir haben die Zeit genutzt. Das war wie ein Intensivkurs für Elitetrainer.

Worüber reden Sie mit den Spielern?

Die besten Teams hatten immer einen starken Zusammenhalt. Wenn man mit Weltmeistern wie Nery Pumpido oder mit WM-Trainern wie Xabier Azkargorta und Francisco Maturana spricht, sind sich alle darin einig, dass der Umgang mit dem Humankapital eine entscheidende Rolle spielt. Also versuchen wir, eine gemeinsame Sprache zu finden, mit Werten und Prinzipien, die uns kollektive Stärke geben.

Welche Leitlinien für die Arbeit haben Sie ihnen an die Hand gegeben und wie?

Was das Fitnesstraining angeht, hat jeder einen persönlichen Plan, denn die Spieler trainieren alle in einem unterschiedlichen Umfeld. Wir passen den Plan fast täglich an. Auf taktischer Ebene suchen wir nach virtuellen Lehrmethoden, die funktionieren, und passen sie dann an unsere Bedürfnisse an. Wir verinnerlichen Konzepte durch Wiederholung, auditive und visuelle Sequenzen sowie durch mündliche und schriftliche Erklärungen. Wir arbeiten mit neurowissenschaftlichen Übungen, Fragebögen ... mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

In einer Übung geben wir ihnen eine ganze Batterie ungeordneter Fotos, die sie dann in die richtige Reihenfolge bringen müssen. Damit versuchen wir, Defensivkonzepte zu verinnerlichen, beispielsweise die Deckung mit drei oder vier Abwehrspielern in Strafraumnähe oder im Mittelfeld, Offensivkonzepte wie die Dreiecksbildung oder Strategien zur Spieleröffnung, aber auch Situationen, zu denen es an beiden Fronten kommt, beispielsweise ruhende Bälle.

Besteht da nicht das Risiko einer Informationsüberflutung?

Nicht, wenn die Übungen richtig angewandt werden. Wir haben den Spielern fast schon einen Trainerkurs gegeben. Sie sollten alle wissen, dass es in einer Partie etwa 120 Unterbrechungen gibt, dass bei der WM 2018 in Russland genau 45 Prozent der Tore nach Standardsituationen fielen oder dass bis zur Ausführung eines Eckballs etwa 24 Sekunden vergehen. Sie müssen diese Informationen aufnehmen und zu ihrem Vorteil nutzen.

Dasselbe gilt für uns. Wir analysieren die "Goldene Generation" Rumäniens und wie sie sich für drei Weltmeisterschaften [in Folge] qualifiziert hat. Das ist auch Iran gelungen, und dort wurden anfangs nur im Inland aktive Spieler eingesetzt. Wir haben sogar die Entwicklung von Weltmeister Frankreich unter die Lupe genommen ... Wir sammeln die Daten, um sie dann mit unseren Spielern zu analysieren.

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Bei Ihren vorherigen Engagements haben Sie mehreren jungen Talenten eine Chance gegeben. Welche Rolle werden die bolivianischen Nachwuchsspieler nach dem guten Auftritt der U-23 beim letzten Qualifikationsturnier für Olympia spielen?

Sie sind schon jetzt ein wichtiger Bestandteil des Kaders und werden es auch in Zukunft sein. Dabei geht es nicht darum, dass ich den Mut habe [sie aufzustellen], sondern dass es gute Gründe dafür gibt: Sie sind sehr beweglich und wendig, und wenn sie in La Paz an diese Leistungen anknüpfen, wird es für jeden Gegner schwer, dort Punkte mitzunehmen.

Wer konnte sich besonders profilieren?

Víctor Ábrego hat eine Glanzleistung abgeliefert: Er hat drei Spiele bestritten und zwei Tore gegen Brasilien und eins gegen Uruguay erzielt. Henry Vaca, der Kapitän, kommt im linken offensiven Mittelfeld zum Einsatz und beackert das ganze Spielfeld. Sebastián Reyes ist ein herausragender Innenverteidiger. Und dann wäre da noch Roberto Carlos Fernández, der sowohl als Linksverteidiger als auch in einer zentralen Rolle eingesetzt werden kann und die Qualität für eine der ersten europäischen Ligen hat. Wir setzen unser Vertrauen in diese Spieler.

Unterstützen Sie weiterhin das Konzept, ein Team für die Heim- und ein anderes für die Auswärtsspiele aufzustellen?

Wir glauben nicht an ein festgelegtes System, aber in der Vergangenheit waren wir damit erfolgreich. In der Qualifikation für Brasilien haben wir [Venezuela] mit zwei unterschiedlichen Kadern gearbeitet und so vier Punkte gegen Bolivien errungen, gegen Argentinien gewonnen und gegen Kolumbien und Uruguay unentschieden gespielt. Außerdem glauben wir sowohl an den internen Konkurrenzkampf als auch daran, dass die größte Armee die kleinere schlägt.

Darüber hinaus wird der Fussball nach der Pandemie anders sein und nicht dieselbe Dynamik haben. Es wird etwas Angst vor Ansteckung geben, vor den Tests und davor, ein Flugzeug zu besteigen, um in ein anderes Land zu reisen. Wir müssen lernen, damit zu leben, und wir werden viele Spieler brauchen.

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Bereitet es Ihnen Sorge, dass Sie erst jetzt die Erlaubnis erhalten haben, das Training wieder aufzunehmen?

Geplant war eigentlich, zwei Monate vorher zu beginnen, da 90 Prozent der Spieler in Bolivien aktiv sind. So wollten wir diese "Schwäche" in eine Stärke ummünzen. Wenn wir in zehn Tagen anfangen, sind wir noch in einem guten Zeitrahmen für eine erfolgreiche Vorbereitung. Das war wichtig, denn es gibt Gegner, die schon drei Monate trainieren, Pflichtspiele bestreiten ... und wir starten gegen Brasilien und Argentinien ins Turnier.

Welche Vor- und Nachteile hat es, gleich zu Beginn auf diese Gegner zu treffen?

Ich sehe keine Nachteile, wenn wir jetzt mit der Vorbereitung beginnen können. Es ist ein Privileg, innerhalb von vier Tagen gegen Messi und Neymar anzutreten. Aber ich möchte mich nicht nur mit ihnen fotografieren lassen, ich will sie schlagen! Diesen Traum kann uns niemand nehmen.

Wie schätzen Sie die Qualifikation insgesamt ein?

Bisher sehe ich noch kein Team, das sich von den anderen abgesetzt hätte. Wir sind alle noch in der Entwicklung. Vor diesem Hintergrund hat Bolivien andere Möglichkeiten. Aber die Südamerika-Qualifikation ist ein schwieriger Hindernisparcour, vor allem für die kleineren Länder. Wir werden mit 18 unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert und können uns keine Atempause leisten.

Als letztes würden wir gern wissen, wie Sie die dritte WM-Qualifikation Ihrer Karriere angehen werden.

Als ich anfing, war ich der Neuling und musste gegen Trainer wie Bielsa, Sabella, Tabárez, Pekerman, El Bolillo Gómez, Markarian antreten ... Heute habe ich fast 100 Spiele mit A-Nationalteams auf dem Buckel und einmal abgesehen von Tabárez oder Rueda hat kein Trainer mehr Spiele der Südamerika-Qualifikation bestritten als ich. Vielleicht habe ich nicht ganz so viele Jahre Erfahrung wie andere, aber ich kenne das Ganze bereits und werde all meine Erfahrung für Bolivien in die Waagschale werfen.