Montag 22 Juni 2020, 08:03

Ein deutsches Bruderduell

  • ​22. Juni 1974: WM-Duell zwischen DDR und BRD

  • Politische Spannungen führten dazu, dass es keinen Trikottausch gab

  • Das einzige Tor der Partie hatte große Konsequenzen - bis hin zum Grab

Haben Sie schon einmal ein WM-Spiel zwischen Brasilien und Brasilien, Frankreich gegen Frankreich oder Italien gegen Italien erlebt? Wahrscheinlich nicht, und dann wird einem auch die Einmaligkeit des Duells vom 22. Juni 1974 bewusst. Denn in der Vorrunde der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Deutschland 1974™ trafen im Hamburger Volksparkstadion die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) aufeinander.

Es sollte das einzige deutsch-deutsche Duell zwischen den beiden nach dem Zweiten Weltkrieg getrennten Ländern bleiben. Dass diese 90 Minuten nicht nur wegen des sensationellen Ergebnisses auf ewig in den Fussball-Geschichtsbüchern einen besonderen Platz haben würden, ahnten an diesem Tage sicherlich nur die wenigsten.

Die Partie versprach große Brisanz, was eine Anekdote verdeutlicht: Mit Rücksicht auf politische Empfindlichkeiten trauten sich die Spieler nach Schlusspfiff nicht, auf dem Platz die Trikots zu tauschen. Deshalb bat Paul Breitner (BRD) erst im Gang in die Kabine den Siegtorschützen Jürgen Sparwasser (DDR) um einen Trikot-Tausch. 28 Jahre blieben diese zwei Hemden vergessen, ehe beide Spieler die Erinnerungsstücke für einen guten Zweck zur Verfügung stellten.

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Die Kulisse

Zwar waren beide Teams vor dem Spiel bereits für die Zwischenrunde qualifiziert, doch im "Bruderduell " der Staffel 1 ging es um den Gruppensieg und natürlich um jede Menge Prestige. Während der BR Deutschland nach Siegen gegen Chile (1:0) sowie Australien (3:0) bereits ein Unentschieden für Rang eins gereicht hätte, musste die DDR unbedingt gewinnen. Das Team von Georg Buschner hatte zuvor Australien geschlagen (2:0) und gegen Chile ein Remis (1:1) erkämpft.

Insgesamt rund 60.000 Zuschauer, darunter etwa 1.500 DDR-Bürger, waren live im Hamburger Volksparkstadion dabei, als sich diese beiden Teams das erste und letzte Mal in der Geschichte des Fussballs gegenüberstanden. Die Rollen war klar verteilt: Auf der einen Seite der WM-Neuling DDR sowie auf der anderen Seite der Weltmeister von 1954 und amtierende Europameister BRD.

Die Handlung

Das Spiel war von Beginn an von gegenseitigem Respekt geprägt. Keiner der beiden Teams wollte an diesem Abend als Verlierer vom Feld gehen, daher neutralisierten sich die Mannschaften weitgehend. Torraumszenen waren Mangelware. Obwohl mit viel Einsatz und Kampfgeist gespielt wurde, blieb es fair. Dreimal zückte der uruguayische Schiedsrichter Ramon Barreto Ruiz die gelbe Karte - dreimal für die DDR.

Die einzige nennenswerte Torchance der Bundesrepublik hatte Angreifer Gerd Müller, der in der 39. Minute den Ball im Strafraum mit dem Rücken zum Tor annahm und aus der Drehung abzog. Das runde Leder knallte an den Pfosten. Auf der Gegenseite hätte Hans-Jürgen Kreische im ersten Abschnitt sein Team in Führung bringen müssen, als er nach einer Flanke von links aus fünf Metern über das Gehäuse von Sepp Maier zielte.

Als sich in der Schlussphase scheinbar alle mit diesem torlosen Unentschieden zufriedenzugeben schienen, passierte es. DDR-Torhüter Jürgen Croy fing in der 77. Minute einen Kopfball ab und leitete den entscheidenden Angriff ein, als er den Ball zu Erich Hamann auf die rechte Seite brachte. Der zehn Minuten zuvor eingewechselte Mittelfeldspieler rannte 30 Meter unbehelligt nach vorne, ehe er von Franz Beckenbauer gestellt wurde. Doch der westdeutsche Libero griff nur zögerlich an und ließ Hamann an die Strafraumgrenze flanken.

Dort stand Jürgen Sparwasser goldrichtig, der den Ball glücklich mit Kopf, Schulter und Brust annehmen konnte. Die beiden Verteidiger Berti Vogts und Horst-Dieter Höttges schienen von diesem Manöver dermaßen überrascht, dass Sparwasser in den Strafraum eindringen und aus fünf Metern unhaltbar zum sensationellen 1:0-Sieg des WM-Neulings einschieben konnte. Es war das erste Gegentor der BRD nach 481 Spielminuten und gleichzeitig Sparwassers einziger WM-Treffer.

Der Star

Der Schütze des goldenen Tores, Jürgen Sparwasser, wird auf ewig mit diesem historischen Duell in Hamburg in Erinnerung bleiben. Sein Treffer gegen den "großen Bruder" machte ihn zu einem der bekanntesten DDR-Sportler. Der 26-Jährige gelernte Maschinenbauer und Student bestritt insgesamt 53 Länderspiele für die DDR-Auswahl (15 Treffer). Bei der EXPO 2000 in Hannover wurde dem DDR-Kicker sogar eine Büste gewidmet.

Die Reaktionen

"Wenn auf meinem Grabstein eines Tages nur 'Hamburg 74' steht, weiß jeder, wer darunter liegt." Jürgen Sparwasser (Torschütze, DDR)

"Das Tor von Sparwasser hat uns aufgeweckt. Sonst wären wir nie Weltmeister geworden." Franz Beckenbauer (Libero, BR Deutschland)

Das geschah danach

Der durch den Erfolg gegen die BR Deutschland errungene Gruppensieg war für die DDR nicht unbedingt ein Vorteil. Denn in der zur WM-Endrunde 1974 neu eingeführten Zwischenrunde mussten sich die Ostdeutschen mit Brasilien (0:1), Argentinien (1:1) sowie dem späteren Vize-Weltmeister Niederlande (0:2) mit ungleich schwereren Gegner auseinandersetzen und schieden als Gruppen-Dritter aus.

Die DFB-Elf dagegen hielt sich in der Zwischenrunde gegen Jugoslawien (2:0), Schweden (4:2) und Polen (1:0) schadlos und zog souverän ins Finale ein, wo man gegen die Niederlande (2:1) den zweiten WM-Triumph nach 1954 feierte.

Für die Auswahl der DDR blieb es in der Folgezeit bei dieser einzigen WM-Teilnahme, während die BRD bis heute immer die Qualifikation für das größte Sportereignis der Welt schaffte und sich 1990 in Italien sowie 2014 in Brasilien - beide Male als "vereinte" Nation - erneut die WM-Krone aufsetzte.