Dienstag 26 Februar 2019, 05:30

Neville: "Die WM dürfte die offenste aller Zeiten werden"

  • Phil Neville blickt zurück auf sein erstes Jahr als Trainer der Lionesses und voraus auf Frankreich 2019

  • Ziel ist eine Steigerung gegenüber Platz drei von 2015

  • Neville: "In meinem Kader für Frankreich sind 23 Plätze frei"

Vor genau einem Jahr kündigte Phil Neville auf einer Pressekonferenz seinen ersten Trainerjob an. Der Raum war bis auf den letzten Platz mit Journalisten gefüllt. Ihm wurde mit viel Skepsis begegnet. Viele harte Fragen wurden gestellt. Eine davon: Warum hatte Neville, der bis dahin nichts mit dem Frauenfussball zu tun hatte, einen der wichtigsten Jobs in diesem Bereich angenommen?

Als wir kürzlich im hochmodernen Trainingszentrum der englischen Nationalmannschaften inmitten einer idyllischen ländlichen Umgebung mit Neville darüber sprachen, wirkte er zwar entspannt, doch in seinen Augen blitzte auch die Entschlossenheit auf. Während des ausführlichen und intensiven Interviews sprach der Ex-Nationalspieler von Manchester United selbst über die anfänglichen Zweifel, die Lektionen aus seiner aktiven Zeit und natürlich das Thema, das ihn im Moment mehr als alle anderen beschäftigt: die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft Frankreich 2019™

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FIFA.com: Wie sehen Sie Ihre ersten zwölf Monate als Trainer der englischen Lionesses? Phil Neville: Aus meinem persönlichen Blickwinkel habe ich jede einzelne Minute genossen. Was die Resultate angeht, sind wir ziemlich gut, denke ich, wobei es aber noch Luft nach oben gibt. Die ersten sechs Monate waren ziemlich turbulent. Ich habe versucht, meine Vorstellungen, meine Philosophie und meine Werte einzubringen.

In den folgenden sechs Monaten habe ich dann erlebt, dass die Spielerinnen einige der Dinge, die ich sehen will, gut angenommen haben. Es gibt eine wirklich gute Bindung zwischen mir, dem Stab und den Spielerinnen. Das letzte Trainingslager in Katar war wohl das beste, das ich erlebt habe. Dort hat einfach alles gepasst. Wenn ich ein Schulzeugnis schreiben müsste, würde ich uns bisher wohl die Note "gut" geben.

Können Sie uns erzählen, wie Sie im ersten Monat einige anfängliche Probleme überwunden haben? Die größte Herausforderung bestand wohl darin, allen zu zeigen, warum ich diesen Job angenommen habe. Es gab am Anfang eine Menge Kritik und Skepsis. Schließlich war ich bis dahin ausschließlich im Männerfussball in Erscheinung getreten. Mein Wechsel in den Frauenfussball kam daher für viele völlig überraschend. Aber ich denke, ich konnte schon im ersten Monat meine Entschlossenheit und mein Engagement demonstrieren und zeigen, wie ich arbeiten will.

Ich bin zu wirklich vielen Spielen gegangen – das mache ich natürlich auch jetzt noch – und habe zahllose Leute aus der WSL (Women's Super League) und anderen Bereichen des Frauenfussballs getroffen, Spielerinnen, Trainerinnen und Trainer. Doch in erster Linie wird man natürlich an den Ergebnissen gemessen. Ich denke, bis zum 4:1-Sieg gegen Frankreich in meinem ersten Spiel haben die Leute noch darauf gewartet, dass ich scheitern würde.

Dann kam der Sieg gegen Frankreich, herausgespielt mit unserer neuen Spielweise, und damit verstummten fast alle kritischen Stimmen nahezu über Nacht. Von nun an konnte ich etwas entspannter arbeiten, weil ich nicht mehr jeden Tag und jede Minute beweisen musste, dass ich es im Frauenfussball zu etwas bringen will.

Bei der Auslosung der Frauen-WM im vergangenen Monat landete England in der starken Gruppe D. Was sagen Sie zum Auftaktspiel gegen Schottland? Ich denke, Gruppe D ist die spannendste und wohl auch die schwerste Gruppe. Ich bin gut mit Shelley (Kerr, der schottischen Nationaltrainerin) befreundet. Ich habe viele Spiele gemeinsam mit ihr gesehen. Sie ist eine großartige Trainerin und hat ein tolles Team. Bei der Anstoßzeit denkt man doch: 'Fünf Uhr in Nizza gegen Schottland… Ich will nirgendwo sonst sein.' Ich habe meinen Spielerinnen gesagt: 'Wer bei diesem Spiel nicht dabei sein will, soll nach Hause fahren und den Sommer genießen.' Bei solchen Spielen will man unbedingt dabei sein.

Es ist schließlich ein Derby, ein Nachbarschaftsduell. Es besteht eine große Rivalität, eine tolle Sache. Letztlich ist es natürlich auch ein Fussballspiel, und genau das werde ich den Spielerinnen auch klar machen. Wenn wir uns zu sehr von den Emotionen mitreißen lassen, könnte Schottland durchaus gewinnen.

Das sind gute Spielerinnen die es in die Weltspitze schaffen können. Im Frauenfussball hat sich Schottland enorm gesteigert. Das Team hat eine großartige Trainerin, die taktisch sehr gerissen ist. Wir müssen diesem Gegner mit großem Respekt begegnen.

Auf WM-Gruppengegner Japan treffen Sie auch in wenigen Wochen beim SheBelieves Cup. Wahrscheinlich wollen Sie sich da etwas bedeckt halten? Dieses Spiel müssen wir einfach gewinnen! Das wäre für uns optimal. Wir gewinnen das Spiel und bekommen damit einen psychologischen Vorteil. Wenn wir nämlich dann im Juni im dritten Gruppenspiel wieder gegen die Japanerinnen spielen, hätten sie diese nagende Erinnerung an die Niederlage im März im Hinterkopf.

Der SheBelieves-Cup ist eine sehr gute Generalprobe. Drei Spiele in kurzer Folge, drei Spiele in tollen Stadien, gegen Spitzenteams. Das ist ein bisschen wie ein Viertelfinale, Halbfinale und Finale, weil die besten Teams der Welt am Start sind.

Gegner vor Frankreich 2019DatumAnstoßzeitenOrt
Brasilien (SheBelieves Cup)Mittwoch, 27. Februar19:00 (Ortszeit)Talen Energy Stadium, Chester, Pennsylvania
USA (SheBelieves Cup)Samstag, 2, März16:30 (Ortszeit)Nissan Stadium, Nashville, Tenessee
Japan (SheBelieves Cup)Dienstag, 5. März17:15 (Ortszeit)Raymond James Stadium, Tampa, Florida
KanadaFreitag, 5. April19:00 (Ortszeit)Academy Stadium, Manchester City
SpanienDienstag, 9. April19:00 (Ortszeit)The Energy Check County Ground, Swindon Town FC
DänemarkSamstag, 25. Mai15:00 (Ortszeit)Banks's Stadium, Walsall FC
NeuseelandSamstag, 1. Juni15:00 (Ortszeit)American Express Community Stadium, Brighton and Hove Albion FC

Wer sind für Sie die Favoriten in Frankreich? Die USA sind Favorit Nummer 1. Frankreich sehe ich als Nummer 2, schließlich ist es das Gastgeberland. Deutschland darf man auch nie vergessen. Im vergangenen Jahr haben wir beim SheBelieves Cup gegen die Deutschen gespielt - eine körperlich fantastische Mannschaft. Wir brauchen jedenfalls unsere absolute Bestleistung. Aber das gilt natürlich auch für die USA, Frankreich, Deutschland...

Die WM dürfte die offenste aller Zeiten werden, was den Gewinner angeht. Wir bereiten uns jedenfalls intensiv vor, damit wir unsere Bestleistung abrufen können.

An meinem ersten Tag habe ich gesagt, dass ich die WM gewinnen will. Das hatte nichts mit Arroganz oder Größenwahn zu tun. Es ist lediglich die Herausforderung für mich und meine Spielerinnen. 2015 in Kanada sind wir Dritter geworden. Ein Fortschritt wäre es also, besser als auf Platz drei abzuschneiden, sprich, das Finale zu erreichen.

Wie wichtig ist es, nach dem dritten Platz von 2015 Spielerinnen mit WM-Erfahrung im Kader zu haben – für Sie selbst und für die weniger erfahrenen Spielerinnen? Meine Assistentin Bev Priestman war bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen dabei. Von den jüngeren Spielerinnen war eine ganze Reihe bei der FIFA U-20-Frauen-WM dabei. Bei unserem letzten Trainingslager hab ich gefragt, wer schon bei einer WM dabei war, und nahezu alle Spielerinnen aus dem Kader hoben die Hände.

Diese Nachwuchsturniere sind unglaublich wichtig für die Entwicklung junger Fussballerinnen. Sie haben viel auf sich genommen und sie hatten Erfolg. Es gibt somit keine Geheimnisse. Das Wichtigste bei solchen Turnieren ist vielleicht nicht einmal, was auf dem Spielfeld passiert. Es geht um das gemeinsame Training, das Zusammenleben, die Gestaltung der freien Zeit, den Reisestress. Wir sprechen von 40 Tagen ohne Eltern, ohne Partner, ohne Kinder. Das ist die eigentliche Herausforderung bei einem großen Turnier, insbesondere bei einer Weltmeisterschaft.

Spielerinnen wie [Lucy] Bronze, [Jill] Scott, [Steph] Houghton, [Karen] Carney, das sind Spielerinnen, die das alles schon hinter sich haben. Sie wissen, was sie zu erwarten haben. Wir müssen nur die richtige Balance zwischen Erfahrung und Jugend finden.

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In ihrer aktiven Karriere wurden Sie – ähnlich wie Gareth Southgate – zum Sündenbock für ein frühes Ausscheiden bei einem internationalen Turnier (UEFA EURO 2000) gemacht. Southgate sagte nach der FIFA Fussball-WM Russland 2018™, dass man in Bezug auf die Nationalmannschaft nun wohl hoffentlich anders über ihn denkt. Hoffen Sie auf einen ähnlichen Stimmungsumschwung im Juli? Ich kann Gareths Situation jedenfalls genau nachvollziehen. Ich habe insgesamt 59 Mal für England gespielt. Das war die Krönung meiner Karriere – und die Leute erinnern sich meist nur an dieses eine Tackling bei der EURO 2000 gegen Rumänien in Charleroi. Ich aber nicht. Ich habe danach einfach weiter gemacht und das hinter mir gelassen. So bin ich.

Wenn es um England geht, dann habe ich durchaus das Gefühl, dass da noch etwas zu erledigen ist. Ich will einen Erfolg mit England feiern. Die größte Enttäuschung meiner Karriere war, dass wir trotz einer Gruppe absolut unglaublicher Spieler keine Europameisterschaft gewonnen haben und auch bei der Weltmeisterschaft keinen Erfolg hatten.

Ich denke nicht so sehr an das Tackling in Charleroi. Es geht um den Wunsch, mit einem englischen Team einen großen Erfolg zu feiern, nicht so sehr um mich persönlich. Das ist das Allerwichtigste. Ich bin sicher, dass es auch bei Gareth ähnlich war. Doch was mich angeht: Das Tackling sollte man vergessen. Jeder macht mal ein misslungenes Tackling. Für mich geht es darum, dass wir keinen Erfolg hatten, obwohl wir die vielleicht beste englische Mannschaft seit 1966 waren. Wir haben nichts erreicht.

Jetzt fahre ich mit einem Kader aus Spielerinnen zu einer WM, die wohl ähnlich stark sind und einen ähnlichen Stand im Frauenfussball genießen – und wir müssen liefern.

Wie viele Plätze sind in ihrem 23er-Kader für Frankreich noch frei? 23. Vom ersten Tag an wollte ich, dass die Tür für alle offen steht. Es geht um die Form, um die Fitness, um das Verhalten, um den Charakter. Können sie 40 Tage wegfahren und mit den Anforderungen einer WM klarkommen?

Dass die Tür für alle offen steht, stärkt die Konkurrenz und Leistungsbereitschaft im Team. Alle haben das Gefühl, nicht unantastbar zu sein. Alle sind ein bisschen nervös, und das ist nicht unbedingt schlecht. Keine hat ihren Platz absolut sicher, sie alle müssen Leistung bringen, Woche für Woche.

Alle haben gleiche Chancen. Das ist das Schöne an unserem Kader. Alle haben ihre Chance, es zur WM zu schaffen. Genau so wollte ich es. Genau so war es auch in meiner Karriere. Es gilt die Maxime: Wenn du es verdienst, im Team zu stehen, zum Kader zu gehören, dann nominiere ich dich auch.