Freitag 21 Juni 2019, 14:14

Collina über VAR, Elfmeter und die Schiedsrichterinnen

  • Collina äußert sich zu einigen Fragen rund um das Thema Schiedsrichterwesen bei der WM in Frankreich

  • Er spricht über den Einsatz von VAR und die Durchsetzung der kürzlich erfolgten Regeländerungen

  • "Die Leistungen entsprechen voll und ganz unseren Erwartungen"

Die erste Phase der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft Frankreich 2019™ ist beendet und allerorten werden Zwischenbilanzen gezogen.

Das gilt auch für das Schiedsrichterwesen und die Überwachung der Leistungen der Offiziellen. Pierluigi Collina, der Vorsitzende der FIFA-Schiedsrichterkommission, hat sich zu einigen Fragen und auch zur Kritik geäußert, die während der Gruppenphase laut wurde.

Die Gruppenphase der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft™ ist beendet. Wie sind Ihre Eindrücke bislang?

Pierluigi Collina: Absolut positiv. Das Interesse an der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft Frankreich 2019™ ist sehr groß, selbst in Ländern, in denen der Frauenfussball nicht besonders populär ist. Das Motto 'Dare to Shine' (Zeit zu glänzen) wird voll und ganz erfüllt.

Wie zufrieden sind Sie bislang mit den Leistungen der Schiedsrichterinnen?

Die Leistungen entsprechen voll und ganz unseren Erwartungen. Die Abteilung Schiedsrichterwesen der FIFA und insbesondere Kari Seitz, unsere Projektleiterin für Frankreich 2019, haben in den vergangenen Jahren sehr intensiv mit den Offiziellen zusammengearbeitet. 24 Schiedsrichterinnen-Teams aus allen sechs Konföderationen wurden in der Gruppenphase eingesetzt und sie alle haben sehr viel Engagement gezeigt und gute Arbeit geleistet.

Am 2. März hat das International Football Association Board (IFAB) eine Reihe von Regeländerungen beschlossen. Diese Änderungen traten nur wenige Tage vor Beginn der FIFA Frauen-WM Frankreich 2019™ in Kraft und werden somit erstmals bei einem FIFA-Wettbewerb angewendet. **Ist bislang alles gut verlaufen, oder gab es bei der Umsetzung der neuen Regeln Missverständnisse oder Fehler bei der Auslegung?

Die Regeländerungen traten zwar offiziell erst am 1. Juni in Kraft, doch alle 24 Teams wurden sofort nach der Entscheidung am 2. März informiert. Außerdem wurde ihnen gestattet, die neuen Regeln bereits in den Freundschaftsspielen zwischen März und Juni anzuwenden. Und nach ihrer Ankunft im Teamquartier wurde jedes Team von einem Mitglied der Abteilung Schiedsrichterwesen besucht, wobei alle Fragen der Trainer und Spielerinnen geklärt wurden.

Es ist daher keine Überraschung, dass die Regeländerungen allen Beteiligten uneingeschränkt bekannt waren. Die neue Regelung für den Torabstoß sorgt für eine flüssigere Wiederaufnahme des Spiels und durch das neue Verfahren bei Einwechslungen werden Zeitverluste vermieden. Dass bei Freistößen keine Angreifer mehr in der Mauer stehen dürfen, ließ einige Probleme der Vergangenheit verschwinden. Das Verhalten der Team-Offiziellen ist bislang sehr gut. Und endlich werden auch Elfmeter korrekt ausgeführt. In der Vergangenheit war es oft so, dass sie gehalten wurden, weil die Torhüter die Torlinie verließen.

Sie sprechen selbst die Elfmeter an, die im Zusammenhang mit VAR derzeit am intensivsten diskutiert und auch kritisiert werden. Auch die Regel selbst wurde kritisiert. Wie kann das Konzept für alle klar gemacht werden?

Zunächst einmal möchte ich daran erinnern, dass Torhüter beim Elfmeter lange Zeit mit beiden Füßen auf der Torlinie stehen mussten. Dies machte es für Torhüter enorm schwer, einen Elfmeter zu halten. Für die Schiedsrichter war es sehr schwer, diese Regel umzusetzen. Daher haben wir das Thema intensiv mit Spielern und Trainern diskutiert und beschlossen, es den Torhütern leichter zu machen, indem sie nur noch einen Fuß auf der Torlinie haben müssen, nicht beide. Seit dieser Änderung ist die Aufgabe der Torhüter definitiv leichter geworden und es ist auch leichter für sie, die Regelung einzuhalten. Wenn allerdings eine Regel existiert, müssen die Schiedsrichter sie auch durchsetzen, insbesondere wenn Hilfsmittel wie die Torlinien-Technologie oder VAR zur Verfügung stehen.

Bei Tatsachenentscheidungen spielt die Anzahl der Zentimeter keine Rolle. Wenn der Ball die Torlinie vollständig überschritten hat, ist auf Tor zu entscheiden. Wenn ein Foul nur wenige Zentimeter innerhalb des Strafraums erfolgt, muss ein Elfmeter verhängt werden. Das gilt auch bei Abseits. Es gibt kein 'kleines' oder 'großes' Abseits, sondern nur Abseits. Schiedsrichter können Fehlentscheidungen heute nicht mehr damit begründen, es nicht gesehen zu haben, denn es gibt ja VAR und Torlinientechnologie, um sie bei der Entscheidung zu unterstützen. Wenn sich nun ein Torhüter von der Torlinie bewegt, bevor der Elfmeter geschossen ist, kann der VAR nichts anderes tun als einzuschreiten und den Schiedsrichter informieren, dass der Elfmeter wiederholt und der Torhüter verwarnt werden muss.

Beim Eindringen von Feldspielern in den Strafraum liegt die Sache etwas anders und unterliegt weiterhin der Kontrolle des Schiedsrichters. Der VAR kann nicht einschreiten, sofern der Spieler nicht direkt ins Spiel eingreift, wenn beispielsweise der ausgeführte Elfmeter vom Pfosten, der Latte oder vom Torhüter ins Spiel zurückprallt. Wie ich bereits dargelegt habe, wurden alle Teams bereits Anfang März informiert und die Torhüter hatten genügend Zeit, sich an diese Regelung zu gewöhnen. Und nochmals, die kürzliche Regeländerung macht die Aufgabe für Torhüter leichter als zuvor.

pqi5tkpr706d1oz1n88y.jpg

Die Schiedsrichterinnen erledigen also einfach ihre Aufgabe, indem sie diese Regelung durchsetzen?

Die Durchsetzung der Regeln ist die Aufgabe der Schiedsrichterinnen und sie können dies nicht unterlassen. Und die Schiedsrichterinnen hier in Frankreich tun sogar noch mehr. Vor jedem Elfmeter erinnern sie die Torhüterinnen sehr deutlich daran, was zulässig ist und was nicht.

Wenn die Schiedsrichterinnen diese Regel befolgen, wie läuft es dann, wenn ein Spiel nach 120 Minuten im Elfmeterschießen entschieden werden muss? Besteht tatsächlich das Risiko, dass eine Torhüterin eine Rote Karte bekommt, wenn sie sich mehr als ein Mal zu früh von der Linie bewegt?

Die FIFA hat vom IFAB eine temporäre Regelung angefordert und erhalten, was die Durchführung von Schüssen von der Strafstoßmarke betrifft – also ein Elfmeterschießen zur Ermittlung des Siegers am Ende eines Spiels. Die Verwarnung für Torhüter, die einen Regelverstoß begehen, wurde zur Abschreckung in die Regeln aufgenommen. Doch welche Abschreckung könnte größer sein als der VAR? Es ist ausgeschlossen, dass eine Torhüterin beide Füße von der Torlinie bewegt, ohne dass dies erkannt wird. Außerdem kamen wir zu dem Schluss, dass das Risiko einer zweiten Verwarnung angesichts der Anzahl der ausgeführten Elfmeter zu hoch ist

Daher führt in der K.o.-Runde der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft Frankreich 2019™ bei Entscheidungen im Elfmeterschießen ein zu frühes Bewegen der Torhüterin zur Wiederholung des Elfmeters aber nicht zu einer Verwarnung für die Torhüterin. Nach dem Ende des Turniers können die disziplinarischen Sanktionen für Vergehen der Torhüterinnen bei Elfmetern in den Gremien des IFAB weiter diskutiert werden.

Lassen Sie uns noch kurz über VAR im Allgemeinen sprechen. Sind sie zufrieden mit dem bisherigen Verlauf hier in Frankreich? Wo sehen Sie besondere Herausforderungen?

Ich bin sehr zufrieden, weil das VAR-System bislang sehr gut funktioniert hat. Unsere Schiedsrichter haben die Schulung mit diesem Hilfsmittel erst nach der FIFA Fussball-WM 2018™ begonnen. Sie haben ein intensives Vorbereitungsprogramm absolviert, um für die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft™ bereit zu sein. Ich muss allerdings zugeben, dass auch ein paar Fehler gemacht wurden. Das ist zwar verständlich, aber es hätte dennoch nicht passieren sollen und das bedauere ich.

Welche Erwartungen haben Sie in Bezug auf die K.o.-Runden?

Die Schiedsrichterinnen werden auch weiterhin sehr hart arbeiten, um für die kommenden WM-Runden bereit zu sein, wenn die Spiele wichtiger und damit auch schwieriger werden. Ich bin zuversichtlich, dass sie erfolgreich arbeiten werden."