Freitag 26 Juni 2020, 13:00

Sinclair: "Kann es kaum erwarten, wieder zu spielen"

  • Christine Sinclair über ihren Erfolg, die erfolgreichste internationale Torschützin aller Zeiten zu sein

  • Die Kanadierin erlebte beim Gewinn ihrer ersten Olympiamedaille einen "emotionalen Zusammenbruch"

  • Sie schwärmt von Jordyn Huitema, Julie Ertz, Becky Sauerbrunn, Tobin Heath und Lindsey Horan

'Cause you may not believe That, baby, I'm relieved

Diese Textstelle aus dem Song It's a Beautiful Day von Michael Bublé fasst perfekt zusammen, wie sich eine ebenfalls aus Burnaby in British Colombia stammende Fussballerin vor einigen Monaten an einem ganz besonderen Tag für den kanadischen Frauenfussball fühlte.

Christine Sinclair hatte es endlich geschafft, Abby Wambach als erfolgreichste internationale Torjägerin aller Zeiten zu entthronen. Kanadas Premierminister Justin Trudeau, FIFA-Präsident Gianni Infantino, der zweimalige NBA MVP Steve Nash, Tennislegende Billie Jean King und auch Abby Wambach gratulierten und überschütteten Sinclair mit Lob. Sie selbst allerdings blieb wie immer bescheiden und unprätentiös.

Sinclair verfasste einen kurzen, zurückhaltenden Tweet und legte sich dann in ihrem Hotel in Edinburg (Texas) aufs Bett. Ein bestimmtes Gefühl beherrschte sie: "Ich fühlte mich einfach sehr erleichtert".

Diese Reaktion ist absolut typisch für die introvertierte Sinclair. Während die Menschen überall unter dem Lockdown litten, blühte sie nach eigenen Worten in der Isolation sogar etwas auf. Kurz vor der Wiederaufnahme des Spielbetriebs nahm sich die 37-Jährige Zeit für ein langes Gespräch mit FIFA.com. Es ging natürlich um den Rekord, ihren "emotionalen Zusammenbruch" beim Gewinn der Olympiamedaille 2012, Kanadas Entschlossenheit, in Tokio die Bronzemedaille zu übertreffen, die Kluft zwischen Kanada und den USA, die fantastische Atmosphäre bei der FIFA Frauen-WM Frankreich 2019™, die Aussichten der Portland Thorns und ihr mögliches Karriereende.

FIFA.com: Christine, was für ein Gefühl war es, als Sie zur internationalen Rekord-Torschützin wurden?

Das ist eine riesige Ehre und eine erstaunliche Leistung, aber ehrlich gesagt war es für mich in erster Linie eine große Erleichterung und eine Last, die von meinen Schultern abfiel, denn diese Sache zeichnete sich ja schon seit einigen Jahren ab. Der Moment rückte immer näher, die fehlenden Tore wurden weniger – und am Ende war es dann einfach eine Erleichterung, das gebe ich ohne zu lügen zu.

Was sagen Sie zu den netten Glückwünschen von Abby Wambach?

Es war ziemlich unglaublich, wie viele Leute mir nach dem Rekord geschrieben haben. Fantastisch, dass ich von Abby gehört habe, und auch von vielen Spielerinnen aus meiner Vergangenheit, Teamkameradinnen ebenso wie Gegnerinnen. Das war schon etwas ganz Besonderes. Die Fussballwelt ist dann doch ziemlich klein und in solchen Momenten wird klar, wie nahe wir uns alle sind.

Das Niveau der CONCACAF-Teams hat sich enorm verbessert. Kanada hatte (in der Olympia-Qualifikation) ein schweres Los erwischt. Was für ein Gefühl war es, sich gegen Jamaika, Mexiko und schließlich Costa Rica durchzusetzen und sich für Tokio 2021 zu qualifizieren?

Das Niveau der CONCACAF ist tatsächlich enorm hoch, sehr schwer für uns. Man hat es ja auch bei der WM in Frankreich gesehen. Jamaika hat sich qualifiziert, fantastisch. Man kann der Entwicklung des Spiels in diesen Ländern förmlich zusehen. Für die USA und Kanada werden die Qualifikationsturniere zu einer immer größeren Herausforderung. Und bei den CONCACAF-Turnieren sind immer viele Spiele in kurzer Zeit zu absolvieren. Letztlich konzentriert sich alles auf ein Spiel – Siegen, oder nach Hause fahren. Wir könnten zehn Mal gegen Costa Rica spielen und würden vielleicht zehn Mal gewinnen. Aber wenn es zu einem solchen Duell unter diesen Vorzeichen kommt, weiß man nie, wie es am Ende ausgeht.

Kanada hat den USA im Finale in der ersten Halbzeit sehr gut Paroli geboten und in den vergangenen Jahren ohnehin einige sehr starke Spiele gegen die USA gezeigt. Was sagen Sie zu der Kluft zwischen den beiden Teams?

Die USA sind die Nummer 1 der Weltrangliste, und das aus gutem Grund. Im Finale konnte man mal wieder sehen, was sie für einen unglaublich breit aufgestellten Kader haben. Es war unser fünftes Spiel bei diesem Turnier innerhalb von zwölf oder dreizehn Tagen - so verrückt ist das. Ich finde, dass wir insbesondere in der ersten Halbzeit sehr gut gespielt haben. Sie hatten ihre Chancen und wir hatten unsere. Es war ein ziemlich ausgeglichenes Spiel. Aber die USA sind ein Team, das gegnerische Fehler sofort bestraft. Wir haben uns ein paar individuelle Fehler geleistet und sie haben sofort Kapital daraus geschlagen. Das liegt einfach an der Klasse, die sie im Kader haben.

Wen würden Sie als beste Spielerin der USA bezeichnen?

Oh, ich weiß es nicht, ganz ehrlich. Das ändert sich von Turnier zu Turnier, jedes Mal ragt eine andere heraus. Ich denke, die konstantesten Leistungen bringt derzeit Julie Ertz. Sie ist einfach wie ein Fels und bringt in jedem Spiel über 90 Minuten ihre Höchstleistung. Die USA haben einfach einen Kader, der vor Klasse nur so strotzt.

Jordyn Huitema hat ein fantastisches Turnier gespielt und wurde Torschützenkönigin. Was halten Sie von ihr als Spielerin und wie gut kann sie noch werden?

Sie hat ein nahezu unendliches Potenzial. Bei diesem Turnier konnte man sehen, dass sie eine eingefleischte Torjägerin ist. Wenn sie eine Chance hat, dann nutzt sie sie fast immer auch. Ich denke, dass es ihr enorm geholfen hat, dass sie ins Ausland gegangen ist und sich neuen Herausforderungen gestellt hat. Die Zukunft des kanadischen Teams dürfte mit ihr sehr gut werden. Sie ist wirklich großartig.

Können Sie das Gefühl beim Gewinn einer Olympischen Medaille beschreiben?

Für mich war es immer ein Kindheitstraum, eine Medaille bei den Olympischen Spielen zu gewinnen. Als ich aufwuchs, hörte man noch nicht sehr viel von unserer Frauen-Nationalmannschaft. Aber ich habe schon immer davon geträumt, Olympiateilnehmerin zu werden und eine Medaille zu gewinnen. Als wir in London die erste Medaille gewannen, hatte ich geradezu einen emotionalen Zusammenbruch auf dem Spielfeld, als wir gerade Frankreich besiegt hatten und mir klar wurde, dass ich eine Olympische Medaille gewonnen hatte. Diese erste Medaille war einfach unglaublich, etwas ganz Besonderes. Bei der zweiten, das gebe ich ganz offen zu, war ich ein bisschen enttäuscht, dass es keine bessere war. Bei diesem Olympischen Turnier haben wir den besten Fussball aller Teams gespielt. Wir haben Deutschland besiegt, wir haben Frankreich besiegt, wir haben Australien besiegt. Nur im Halbfinale hatten wir einen kleinen Durchhänger. Da geht einem dann schon mal durch den Kopf, was hätte sein können.

Sie haben zwei Olympische Bronzemedaillen in Folge gewonnen. Sind Sie zuversichtlich, dass Kanada bei den nächsten Olympischen Spielen noch etwas besser abschneidet?

Das ist jedenfalls der Plan. Darauf bereiten wir uns vor. Unser Motto lautet: 'Bronze haben wir genug, jetzt wollen wir etwas Besseres'. Wir müssen es schaffen, das Halbfinale zu überstehen. Wir haben den Willen und den Glauben, es dieses Mal auf dem Podium ganz nach oben zu schaffen.

Wie haben Sie Frankreich 2019 erlebt?

Wenn man sich anschaut, wie es für uns endete, dann waren wir wohl alle etwas enttäuscht. Aber als großer Fussballfan und Mensch, der die Entwicklung des Frauenfussballs voller Leidenschaft verfolgt, war es einfach großartig. Die Spiele in diesen tollen Stadien, vor solch großen Zuschauermassen – einfach fantastisch. Und das ist erst der Beginn der Entwicklung des Frauenfussballs. Bei den kommenden Weltmeisterschaften wird es immer noch größer und noch besser werden.

Was sagen Sie dazu, dass es in der NWSL jetzt mit dem Challenge Cup weitergeht?

Ich kann es wirklich kaum erwarten, wieder zu spielen. Aber es gibt auch zwiespältige Gefühle. Die Portland Thorns haben in der spielfreien Zeit viele Änderungen vorgenommen. Ich war einfach begeistert, mit dieser Gruppe die Saison zu bestreiten. Ich vermisse es, vor unseren Fans im Providence Park zu spielen. Wir haben jetzt einen ganzen Monat in Utah vor uns. Das wird nicht das Gleiche sein. Aber gleichzeitig freuen wir uns natürlich sehr, wieder spielen zu können.

Die Portland Thorns haben 2018 und 2019 den ganz großen Erfolg verpasst. Sind Sie zuversichtlich, dass Sie 2020 einen Titel gewinnen werden?

Daher bin ich ja so enttäuscht. Wir haben einige Weltklassespielerinnen wie Becky Sauerbrunn und Rocky Rodriguez geholt. Wir haben großartige junge Talente. Wir waren einfach begeistert, was wir mit unserem Team in dieser Saison erreichen könnten. Aber wir sind bereit und wollen wieder spielen. Hoffentlich normalisiert sich im nächsten Jahr wieder alles und wir können eine volle Saison spielen.

Sie haben Becky Sauerbrunn angesprochen. Wie ist sie als Spielerin?

Ich habe jetzt schon oft mit ihr trainiert und sie ist einfach Spitzenklasse. Eine großartige Person auch abseits des Spielfelds, und eine unglaubliche Fussballerin. Sie ist eine der besten Verteidigerinnen, gegen die ich in meiner Karriere gespielt habe. Sie ist einfach sehr clever. Du denkst, du kommst an ihr vorbei, aber sie steht immer genau am richtigen Punkt und es sieht alles ganz leicht aus. Sie wirkt nie überfordert. Ich bin sehr froh, dass sie in meinem Team spielt und ich nicht gegen sie spielen muss.

Und was sagen Sie zu Tobin Heath und Lindsey Horan?

Du meine Güte! Was Tobin mit dem Ball anstellen kann, das können nicht viele Spielerinnen. Und Lindsey ist für mich sowieso herausragend. Ihre Entwicklung in den vergangenen drei Jahren zu sehen, ist einfach fantastisch. Als sie zu den Thorns kam, war sie schon in Frankreich gewesen, aber sie war noch sehr jung. Heute dirigiert sie selbst das Spiel. Sie bestimmt die Richtung. Sie hat sich von einer reinrassigen Stürmerin in der Jugend zu einer Regisseurin entwickelt, die im Mittelfeld die dominante Rolle spielt. Das ist eine fantastische Entwicklung.

Was haben Sie gemacht, um sich während dem Lockdown die Zeit zu vertreiben?

Ich habe einige Wochen des Lockdowns in Florida verbracht und dabei die Sonne genossen. Nebenher habe ich ein bisschen an meinem Golfspiel gearbeitet. Ich habe viel schöne Zeit mit meinem Hund verbracht. Ich habe ein bisschen Netflix geschaut. Aber ehrlich gesagt bin ich ein introvertierter Mensch und der Lockdown war kein wirklich großes Problem für mich. Es hat mir überhaupt nichts ausgemacht, meinen Freiraum für mich zu haben. Ich denke, das hat mir sogar gut getan!

Zum Abschluss noch diese Frage: Wann werden Sie Ihre Karriere beenden?

Na, das ist ja eine Frage! (lacht) Ich weiß es nicht. Eigentlich hatte ich ja gesagt, dass ich die Olympischen Spiele 2020 abwarte und dann weitersehe. Jetzt ist es so, dass die Olympischen Spiele erst im kommenden Jahr stattfinden. Also werde ich wohl erst danach entscheiden, wie es weitergeht.