Freitag 17 April 2020, 08:09

Frauen der ersten Stunde

  • Am 17. April 1971 wurde das erste offizielle Frauenländerspiel ausgetragen

  • Frankreich besiegte die Niederlande

  • "Wir mussten uns einiges anhören"

"Ein Traum wurde wahr. Es war wie im Märchen", schwärmte einst Marie-Louise Butzig, die vor rund 40 Jahren im französischen Tor stand. Als sich am 17. April 1971 im nordfranzösischen Städtchen Hazebrouck Historisches ereignete, war sie mittendrin. Sie hielt im Spiel gegen die Niederlande souverän, ließ keinen einzigen Ball passieren und trug damit wesentlich zum 4:0-Sieg ihres Teams bei. Doch das Resultat war Nebensache, denn an diesem Tag ging es um weit mehr, was Butzig, die 2017 verstorben ist, und ihre Mitspielerinnen (Régine Pourveux, Marie-Bernadette Thomas, Nicole Mangas, Colette Guyard, Betty Goret, Marie-Christine Tschopp, Jocelyne Ratignier, Michèle Monier, Jocelyne Henry, Claudine Dié, Maryse Lesieur, Nadine Juillard, Marie-Claire Harant und Ghislaine Royer) damals allerdings noch nicht wussten.

Der Frauenfussball steckte damals noch in den Kinderschuhen. Jahrelang mussten die Französinnen um die offizielle Anerkennung ihres Sports kämpfen, ehe sich die männerdominierte Führungsriege des französischen Fussballverbands (FFF) am 29. März 1970 dazu durchringen konnte, die Spielerinnen bei sich aufzunehmen. Auch die Medien hatten mit dem Frauenfussball lange Zeit ihre liebe Mühe, wie ein Auszug aus der Zeitschrift "France Football" zeigt: "Alle Versuche, den Frauenfussball offiziell zuzulassen, sind zum Scheitern verurteilt … in unseren Augen ist der Fussball ein Männersport."

Die Frauen ließen sich von dieser männlichen Abwehrhaltung allerdings nicht beirren und gingen konsequent ihren Weg. Vor allem im Elsass schlossen sie sich zusammen und gründeten in den 1960er-Jahren zahlreiche Vereine wie etwa Schwindratzheim. In der Saison 1970/71 gab es in Frankreich bereits 2710 Spielerinnen, dies bei insgesamt 758.559 registrierten Aktiven. Der Frauenfussball war damit in Frankreich eine Realität, die selbst die konservativen Fussballfunktionäre nicht mehr länger ignorieren konnten.

So wurde der Frauenfussball endlich offiziell anerkannt. Für die Frauen war das aber lediglich ein Teilsieg, denn die Vorurteile hielten sich hartnäckig. "Wir mussten uns so einiges anhören", erinnerte sich Butzig vor einigen Jahren. "Viele meiner Arbeitskollegen waren der Meinung, dass ich nicht Fussball spielen, sondern Socken stricken sollte. Doch mit der Zeit bröckelte die Front. In meiner Heimatstadt Vrigne-aux-Bois kamen einmal 1100 Zuschauer zu einem Frauenspiel. Bei den Männern waren es nie mehr als 150."

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Späte Anerkennung

Auch Ghislaine "Gigi" Royer-Souef, die gegen die Niederlande eingewechselt wurde, weiß von negativen Erfahrungen zu berichten: "Meine Brüder nahmen mich jeweils mit, weil sie ein Ballmädchen brauchten. Doch dann begann ich, selbst Fussball zu spielen. Als Mädchen war das damals nicht einfach. Wir mussten uns viel anhören, aber wir ließen uns davon nicht beirren. Wir folgten einfach unserem Herzen. Das war das Wichtigste."

Diese Spielfreude trieb die französischen Spielerinnen allen Widerständen zum Trotz an. Schon vor der Begegnung gegen die Niederlande hatten sie sich zu einem "Nationalteam" zusammengeschlossen und drei Freundschaftsspiele bestritten (1969 gegen England, 1969 und 1970 zweimal gegen Italien). Und auch im April 1971 deutete nichts darauf hin, dass sich am inoffiziellen Status der Equipe etwas ändern würde. Ahnungslos reisten die Französinnen zur Partie, die vom FFF etwas später als offizielles Länderspiel anerkannt werden sollte. Wie geschichtsträchtig diese Begegnung war, wussten damals aber nicht einmal die Herren des Verbands. Erst als die FIFA Anfang des 21. Jahrhunderts die FIFA/Coca-Cola-Frauenweltrangliste lancierte und zu diesem Zweck die Ursprünge des Frauenfussballs zu erforschen begann, wurde die Dimension dieses Spiels so richtig klar. Interessant ist übrigens auch der Hintergrund des zweiten offiziellen Länderspiels der Frauen. 1972 trafen in Glasgow Schottland und England aufeinander, dies fast auf den Tag 100 Jahre nach dem ersten offiziellen Länderspiel der Männer zwischen den beiden.

Für die französischen Spielerinnen war die Partie in Hazebrouck einfach ein Heidenspaß, wie sich Colette Guyard, die heute als Postbeamtin arbeitet, erinnert: "Die Stimmung im Bus war toll, wie immer. Ich war damals kaum 18 Jahre alt. Wir sangen einige ziemlich dreiste Lieder, spielten Karten und erzählten uns dies und das. Auf der Rückfahrt hielten wir beim Bauernhof meiner Eltern, um etwas zu essen. Es war eine riesige Party, vom Anfang bis zum Schluss."

Auch die Medien hatten keine Ahnung und interessierten sich deshalb kaum, was hier bei eisigen Temperaturen vor 1500 Zuschauern abging. Umso wertvoller sind daher die Erinnerungen der Spielerinnen. Guyard hat den Auftritt ihres Teams noch bestens vor Augen, das dank eines Hattricks von Flacé-Macons Jocelyne Ratignier und eines Treffers von Marie-Claire Harant zu einem ungefährdeten 4:0-Sieg kam.

"Wir gehörten weder zu den Stärksten noch zu den Größten", erzählt sie. "Glücklicherweise konnten wir die körperlichen Defizite aber mit unserer guten Technik wettmachen."

An diesem Tag stand nicht nur die Zukunft des Frauenfussballs auf dem Spiel, sondern auch die Qualifikation für die inoffizielle Weltmeisterschaft 1971 in Mexiko, was die Spielerinnen aber ebenfalls nicht wussten. Erst nach dem Sieg ließ Trainer Pierre Geoffroy die Katze aus dem Sack.

"Er hatte vor dem Spiel kein Wort davon gesagt!", fügt Guyard an. "Die Stimmung auf der Rückfahrt im Bus war damit natürlich noch besser. Wir feierten und genehmigten uns ein Gläschen. Wir waren alle leicht beschwipst!"

Nationalstolz

Ob Freundschaftsspiel oder inoffizielle Weltmeisterschaft, bei der Frankreich 1971 dank eines 3:2 gegen England Platz fünf belegte, für die Spielerinnen war jede Partie ein einmaliges Erlebnis, allein schon der französischen Nationalhymne wegen.

"Sobald wir die ersten Töne der Marseillaise hörten, waren wir den Tränen nahe", gesteht Butzig. "Wir spielten auf höchstem Niveau. Es war eine Ehre, unser Land zu vertreten, auch wenn wir das damals nicht so richtig fassen konnten. Ein Länderspiel ist das Größte."

Wenn die Spielerinnen von diesem ersten Länderspiel sprechen, fällt oft auch der Name ihres Trainers. "Mister Geoffroy", wie er von vielen noch immer genannt wird, arbeitete damals nebenbei noch als Journalist für die französische Tageszeitung "L’Union", ebenso für "L’Équipe" und "France Football". Seinen Einfluss nutzte er, um für den Frauenfussball zu werben.

Der Aufstieg des Frauenfussballs in Frankreich ist zu einem guten Teil auch sein Verdienst. Zusammen mit seinem Assistenten Louis Petitot suchte er per Inserat Spielerinnen für Stade de Reims und brachte damit den Ball im wahrsten Sinne des Wortes ins Rollen. "Sie sollten zu seinen Ehren eine Statue errichten", sagt Butzig, ohne zu zögern. "Er hat den Frauenfussball zum Leben erweckt. Er war ein Supertrainer."

Auch Michèle Wolf, die 35 Spiele für Frankreich absolvierte, mangels Ferien aber sowohl das erste offizielle Länderspiel als auch die inoffizielle Weltmeisterschaft verpasste, erinnert sich gerne an Geoffroy zurück … auch wenn’s weh tut. "Mister Geoffroy wusste genau, was er wollte", schmunzelt sie. "Er war unglaublich hart. Er trieb uns gar die Sanddünen hoch. Wir waren nach jedem Training fix und fertig."

Wegbereiter

Mit der Equipe von Stade de Reims, die auch die meisten Nationalspielerinnen stellte, eroberten Geoffroy und seine Spielerinnen die Welt. "Wir brauchten den gesamten Urlaub für den Fussball", sagt Royer-Souef. "Dank dem Fussball hatten wir die einmalige Chance, die Welt zu sehen. 1971 spielten wir im Azteken-Stadion in Mexiko vor 60.000 Zuschauern. 1978 reisten wir nach Chinese Taipei, 1970 in die USA und nach Kanada, 1974 nach Westindien und 1984 nach Indonesien. Dank unserer gemeinsamen Tournee mit der AS Roma sind angeblich sogar die USA auf den Geschmack des Frauenfussballs gekommen."

Ein solch zeitaufwändiges Hobby war für die Frauen damals ziemlich außergewöhnlich. "Ich musste für eine Reise im August all meinen Urlaub nehmen", sagt Butzig. "Als wir im September und Oktober wieder im Ausland spielten, musste ich meinen Chef bitten, mir unbezahlten Urlaub zu geben. Ich hatte Angst, meinen Job zu verlieren. Doch mein Chef sagte, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche und ohne Bedenken fahren könne."

Seither hat sich viel verändert. Frankreich gehört dank dem unermüdlichen Engagement der Frauen selbst, aber auch etlicher Männer mittlerweile zu den führenden Frauenfussballnationen. In Europa sind die Bleues eine feste Größe. Bei der Europameisterschaft sind sie seit 2001 Stammgast. 2003 feierten sie ihre WM-Premiere, nachdem sie am 16. November 2002 vor 23.680 frenetischen und zum Schluss zu Tränen gerührten Fans im Geoffroy-Guichard-Stadion in Saint-Étienne die Qualifikation geschafft hatten.

Auch im Klubfussball mischen die Französinnen ganz vorne mit. Olympique Lyonnais, mittlerweile die Nummer eins im Land und Rückgrat des Nationalteams – sehr zur Freude der Spielerinnen von einst, die auch heute noch große Fussballfans sind. "Ich schaue mir im Fernsehen gerne Frauenspiele an", so Butzig. "Im Großen und Ganzen hat sich der Frauenfussball positiv entwickelt. Die Mädchen trainieren mehr als wir damals und erhalten mittlerweile zum Glück auch etwas Geld. Was noch fehlt, ist die gebührende Anerkennung in den Medien. Dabei ist der Frauenfussball doch weit schöner anzusehen als das Spiel der Männer. Die Frauen schauspielern nicht so oft wie die Männer. Wenn sie zu Boden gehen, dann ist wirklich etwas passiert."

Auch Royer-Souef ist mit dem Fussball noch immer eng verbunden. So ist sie regelmäßig im Auguste-Delaune-Stadion anzutreffen, wenn die Männer von Reims ihre Spiele in der zweiten Division bestreiten. "Ich war schon immer ein grosser Fussballfan", erzählt sie. "Ich bin stets auf dem Laufenden. Zu meinen Mitspielerinnen habe ich immer noch regen Kontakt. Wir treffen uns ab und an … und schwelgen dann gerne in alten Erinnerungen. Wir werden die Weltmeisterschaft in Deutschland mit Sicherheit verfolgen und kriegen hoffentlich auch Tickets, damit wir uns ein Spiel live anschauen können."

Ehre, wem Ehre gebührt, auch wenn Royer-Souef ihre Rolle herunterspielt. Als Wegbereiterin will sie sich und ihre Mitspielerinnen keinesfalls sehen: "Nein, wir haben einfach das Fundament gelegt, auf dem alle nach uns aufbauen konnten."