Mittwoch 03 Juni 2020, 09:12

Enyer Higuera: Vom Strumpfball zur WM

  • Die Angreiferin überzeugt in Venezuelas U-20

  • Ihr Ziel: die FIFA U-20-Frauen-WM in Panama und Costa Rica

  • Higuera: "Für viele ist es eine zweite Chance"

"Meine ersten Bälle waren Saft- oder Ölbehälter, die ich mit Sand gefüllt habe, damit sie schwerer werden. Dann kam ich eines Tages auf die Idee, Socken mit alten Lappen vollzustopfen. Das war besser, weil ich ihnen eine runde Form geben konnte. Meine Mama hätte mich fast umgebracht, weil es die Strümpfe für die Schule waren ..."

Enyer Higuera lacht, als sie daran zurückdenkt. Sie war damals neun Jahre alt und bei ihr zu Hause reichte das Geld nicht, um Bälle zu kaufen. Also bastelte sie sich selbst welche. Die aktuelle Stürmerin der venezolanischen U-20-Auswahl kam durch ihre Freunde zum Fussball, denn weder ihr Vater Cristiano noch ihre drei Brüder interessierten sich dafür.

Darüber hinaus versuchte ihre Mutter Teresa, ihr das Ganze auszureden. "Sie sagte, ich solle lieber Volleyball spielen. Das sei ein Sport für Mädchen. Wenn wir uns heute daran erinnern, lachen wir darüber, denn jetzt kann ich meinen Eltern dank des Fussballs helfen", erklärt sie im Gespräch mit FIFA.com.

Mit 13 Jahren durfte Sie mehr Zeit mit dem Fussballspielen verbringen und hatte richtige Bälle. Im Alter von 15 Jahren verlängerte ihr Papa dann freitags seinen Arbeitstag als Taxifahrer, um sie nach Barinas zu fahren, wo er sie sonntags wieder abholte. Dort entstand bei ihr der Wunsch, Profispielerin zu werden.

"Weil ich in der Stadtauswahl spielte, bekam ich die Chance, Zeit mit dem Nationalteam zu verbringen. Später wurde ich dann in die U-17-Auswahl berufen. Leider nahm der Zyklus kein gutes Ende, weil wir uns 2018 nicht für die WM in Uruguay qualifizieren konnten. Wir hoffen, dass es diesmal anders sein wird."

Higuera spielt aufgrund ihrer Fähigkeit, die gesamte Bandbreite des Angriffs abzudecken, eine wichtige Rolle in der Vinotinto, die in die Finalrunde der Südamerika-Qualifikation für die FIFA U-20-Frauen-Weltmeisterschaft Costa Rica/Panama 2020™ eingezogen ist. Das Qualifikationsturnier fand in Argentinien statt, musste aber aufgrund des grassierenden Coronavirus im März unterbrochen werden.

Die Verantwortlichen der südamerikanischen Fussballkonföderation CONMEBOL haben nun angekündigt, dass das Turnier im Oktober fortgesetzt werden soll. Kolumbien, gegen das Venezuela in seiner Gruppe bereits gewinnen konnte, Brasilien und Uruguay heißen die Gegner, die es zu schlagen gilt.

"Wir sind nicht verzweifelt, haben aber große Lust, wieder zusammenzukommen. Vor allem kommt es darauf an, dass wir die begonnene Arbeit fortsetzen und uns einen Startplatz sichern, denn viele von uns haben unter dem frustrierenden Aus von 2018 gelitten", erklärt Higuera aus Dolores, wo sie ihr Training während der Zwangspause fortsetzt.

Sie ist überzeugt davon, dass das Team, das in der ersten Runde zehn von zwölf Punkten eingefahren hat, auch nach der Pause wieder gut harmonieren wird. "In der ersten Halbzeit des Auftaktspiels gegen Bolivien hatten wir Probleme, zu unserem Rhythmus zu finden, aber dann lief es gut. Ich hoffe, dass wir schnell wieder in den Fluss kommen, denn wir haben nicht viel Spielraum für Fehler."

Bei den vier letzten Spielen hat das Team einen positiven Eindruck hinterlassen. "Die Defensive hat sehr gut funktioniert, sowohl in der Abwehr als auch im Mittelfeld. Wir haben nur ein Gegentor kassiert, und zwar gegen Kolumbien, das auf dem zweiten Platz gelandet ist", meint die erklärte Bewunderin von Cristiano Ronaldo und Salomón Rondón rückblickend.

Dennoch gibt es noch Verbesserungspotenzial. "Im Angriff hätten wir noch effektiver sein müssen. Das wird eine wichtige Rolle spielen, weil die Gegner jetzt stärker sind", so die 19-jährige Stürmerin.

Eine etwas eigentümliche Selbstkritik bei einem Team, das durchschnittlich 3,75 Tore pro Spiel erzielt hat und nur gegen das inzwischen ausgeschiedene Argentinien nicht zum Zuge kam.

Doch die vielseitige und unangepasste Higuera gibt sich nie mit dem Erreichten zufrieden. So war es bei Deportivo Táchira, wo sie im Alter von 17 Jahren ihr Debüt gab, und auch beim paraguayischen Klub Sol de América, für den sie in der Saison 2019 25 Tore erzielte.

Und sie gibt niemals auf. Das zeigte sie auch in der Südamerika-Qualifikation, wo sie bis zum letzten Gruppenspiel warten musste, um sich auf die Torjägerinnenliste einzutragen. Dafür trug sie dann gleich einen Hattrick zum 7:0 gegen Ecuador bei.

"Es macht dich nervös, wenn du ein Tor schießen willst und es einfach nicht gelingt. Das ist aber nicht hilfreich. Aber ich habe nicht nachgelassen und meine Teamkameradinnen standen immer hinter mir. Zum Glück ist der Knoten vor der Finalrunde noch geplatzt."

Am Ende steht natürlich das kollektive Ziel des Teams im Mittelpunkt. "Für viele ist es eine zweite Chance, die wir nicht verpassen dürfen. Wir wollen nicht davon träumen, eine WM zu spielen, wir wollen dabei sein."

Drei Schnellschüsse

Vorbilder im Frauenfussball "Ehrlich gesagt habe ich keine. Wenn ich gefragt werde, ob ich wie Deyna Castellanos, Marta oder Alex Morgan sein möchte, antworte ich, dass ich mir lieber selbst einen Namen machen möchte."

Ihre Zukunft auf Vereinsebene "Nach Paraguay gab es Kontakte in Chile und Ecuador und auch in Spanien, aber der Coronavirus hat alles ausgebremst. Aber daran verzweifele ich nicht. Im Augenblick hat das Nationalteam Priorität."

Beschäftigung während der Zwangspause "Ich unternehme etwas mit meiner Familie, denn wenn ich spiele, sehe ich sie kaum. Deshalb nutze ich die Zeit mit ihr so gut ich kann."