Mittwoch 16 Dezember 2020, 11:51

Naeher: "Ich bin jetzt ein besserer Mensch als Anfang 2020"

  • Alyssa Naeher ist Finalistin für die Auszeichnung The Best – FIFA-Welttorhüterin 2020

  • Die Nummer eins der USA spricht exklusiv mit FIFA.com über ein außergewöhnliches Jahr

  • "Den Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass ich mich mit Bällen beschießen lasse, scheint nicht immer die intelligenteste Entscheidung gewesen zu sein!"

Alyssa Naeher gehört nicht zu denen, die gern im Rampenlicht stehen.

Rückblick: Wir befinden uns im Halbfinale der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft Frankreich 2019™. Sechs Minuten vor Schluss führen die USA gegen England mit 2:1. Steph Houghton, Spielführerin der Lionesses, tritt an, um einen Elfmeter auszuführen, der die Chance auf den Ausgleich und die Verlängerung bietet.

Naehers Füße scheinen auf der Torlinie festgetackert zu sein, ihr Blick hoch konzentriert. Sie hechtet nach rechts und pariert den Strafstoß, dann umklammert sie den Ball mit einer Mischung aus Entschlossenheit und Erleichterung. Doch als ihre Mitspielerinnen auf ihre verlässliche Torfrau zulaufen, um mit ihr zu feiern, schubst sie sie weg und fordert sie auf, jetzt nicht den Kopf zu verlieren, konzentriert zu bleiben und die Führung über die Zeit zu bringen.

Ihre spielentscheidende Parade war zweifellos ein Schlüsselmoment auf dem Weg der USA zum vierten Triumph bei der Frauen-WM. In sämtlichen Interviews nach dem Spiel und bei allen Auftritten in den Medien war sie ebenso entspannt, gefasst und ausgeglichen wie an diesem Abend in Lyon auf der Torlinie.

Nachdem bekannt gegeben worden war, dass sie unter den Finalistinnen für die Auszeichnung The Best – FIFA-Welttorhüterin 2020 ist, traf FIFA.com sie wieder in einer ähnlichen Stimmung an.

FIFA.com: Alyssa, wie haben Sie reagiert, als Sie erfahren haben, dass Sie bei der Wahl zur The Best – FIFA-Welttorhüterin unter den drei Finalistinnen sind?

Es ist eine große Ehre und mit Sarah Bouhaddi und Christiane Endler bin ich in guter Gesellschaft. Das ist ein langes Jahr, es war aufregend und ich bin stolz darauf. Ich war immer auf Titel und Goldmedaillen fokussiert und darauf, wie ich meinem Team zum Sieg verhelfen und mich als Torhüterin jeden Tag verbessern kann. Eine individuelle Auszeichnung ist ein zusätzlicher Bonus für die Arbeit, die ich persönlich und wir als Team im Training und in der Vorbereitung geleistet haben.

Sind individuelle Auszeichnungen wichtig, insbesondere mit Blick auf die Situation im Jahr 2020?

2020 war für den Sport ein sehr außergewöhnliches Jahr, aber auch für alle anderen Bereiche weltweit. Alle arbeiten hart und investieren viel Zeit, und in diesem Jahr musste ich kreativer sein als je zuvor, um mich vorzubereiten, fit zu halten und fokussiert zu bleiben. In diesem Jahr war alles sehr unvorhersehbar und ist es noch immer. Ich habe das ganze Jahr über versucht, so gut vorbereitet wie möglich zu sein und mich bereit zu halten, ohne genau zu wissen, was passieren würde. Darauf habe ich mich konzentriert. Die Olympischen Spiele wurden abgesagt, die Saison wurde unterbrochen, Spiele wurden immer wieder verschoben. Also habe ich versucht, meinen mentalen Fokus beizubehalten und so gut wie möglich auf den Fall vorbereitet zu sein, dass sich neue Möglichkeiten ergeben.

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Gibt es einen kreativen Moment, auf den Sie besonders stolz sind?

In Chicago ist es ja bekanntlich etwas kälter. Also habe ich insbesondere in den Wintermonaten, als die Spielfelder gesperrt und das Teamtraining ausgesetzt war, in der Gasse hinter meinem Wohnhaus trainiert und bin die Straße rauf und runter gelaufen. Glücklicherweise waren nicht viele Autos unterwegs. Ich habe auch häufig im Parkhaus oder auf dessen Dach trainiert.

Können Sie sich noch erinnern, wann Ihnen klar wurde, dass Sie Torhüterin werden würden?

Ich mochte die Position schon als Kind. Ich war immer diejenige, die den Trainer bat, ins Tor zu dürfen. Ich habe mir von meinen Eltern Handschuhe und andere Dinge gewünscht. Ich hatte immer Spaß daran, und ich spielte auch gern Basketball. Ich weiß noch, dass ich einmal im Sommer an einem Fussballcamp teilnahm. Ich war damals 12 Jahre alt und wollte das Camp aufsplitten. Die Hälfte der Zeit wollte ich an einem Camp für Torhüterinnen teilnehmen und die andere Hälfte an einem Camp für Feldspielerinnen. Nach der ersten Trainingseinheit für Torhüterinnen sagte ich meinen Eltern: 'Ihr könnt mich vom Camp für Feldspielerinnen abmelden, ich bin Torhüterin.' Den Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass ich mich mit Bällen beschießen lasse, scheint nicht immer die intelligenteste Entscheidung gewesen zu sein, aber so ist es nun mal! [lacht]

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Wenn Sie auf Ihre bisherige Laufbahn zurückblicken, gibt es dann Momente oder Zeiten, die auf Ihrem Weg an die Spitze besonders entscheidend waren?

Ich hatte während meiner gesamten Karriere das Glück, mit unglaublichen Trainern und anderen Torhüterinnen arbeiten zu können, die mir geholfen haben, an diesen Punkt zu kommen – auf Vereinsebene, im College und im Profifussball. Die U-20-WM im Jahr 2008 war eine tolle Erfahrung. Wir hatten wirklich ein ganz besonderes Team. Das war wahrscheinlich eines meiner schönsten Erlebnisse im Fussball, und ich habe von diesem Team viel gelernt. Tony DiCicco konnte mir unglaublich viel beibringen, einfach weil er ist, wie er ist. In meinen ersten beiden Jahren in Boston konnte ich von Profis wie Kristine Lilly, Leslie Osbourne, Lindsay Tarpley, Lauren Holiday und Kelly Smith lernen, alles unglaublich erfahrene Spielerinnen, die mir wirklich beigebracht haben, was es bedeutet, Profi zu sein. Im Nationalteam war ich seit 2009 immer mal wieder für Trainingslager nominiert. Meinen ersten Länderspieleinsatz hatte ich aber erst 2014. In diesen fünf Jahren hatte ich Gelegenheit, mit Paul Rogers, Nicole Barnhart, Ashlyn Harris, Hope Solo und Jill Loyden zu trainieren, einer super Gruppe von Torhütern, von denen ich lernen und mit denen ich mich weiterentwickeln konnte. Die Erfahrung von 2015 als Ersatztorhüterin war unglaublich. Ich habe erlebt, was es bedeutet, bei einer WM dabei zu sein. Ich habe meine Aufgabe erfüllt, dem Team geholfen und dabei eine Menge gelernt, sodass ich 2019 eine bessere Vorstellung davon hatte, was mich erwarten würde und worauf es ankam.

Sie mussten recht lange auf Ihr Debüt im A-Nationalteam warten. War es schwierig, geduldig zu bleiben, und gab es in dieser Zeit Momente, in denen Sie gezweifelt haben?

Es gab auf jeden Fall Situationen, in denen ich ungeduldig geworden bin. Es ist immer schwierig, in der Warteschleife zu sein. Wir Menschen sind grundsätzlich nicht dafür gemacht, zu warten und geduldig zu sein. Aber ich habe es geschafft, so gut ich konnte von Tag zu Tag zu denken und mich darauf zu konzentrieren, was ich noch besser machen konnte als am Vortag. Was kann ich von den anderen Torhüterinnen lernen? Wenn du in einem solchen Umfeld trainieren kannst, mit vier oder fünf anderen Torhüterinnen, die sich auf einem sehr hohen Niveau befinden, kannst du nur besser werden. Ich musste mich also weiter auf diesen Aspekt konzentrieren. Du bist immer dem Konkurrenzkampf ausgesetzt und am Ende geht es darum, diejenige zu sein, die zum Einsatz kommt. Aber ich habe vor allem versucht, all das zu kontrollieren, was ich selbst in der Hand hatte. Ich konnte die Einstellung kontrollieren, mit der ich jeden Tag zur Arbeit erschien und meinen Fokus auf und neben dem Platz. Ich habe versucht, dafür zu sorgen, dass ich meine Chance nutzen kann, wenn sie sich bietet. Ich wollte bereit sein. Mit dieser Mentalität bin ich durch die Wartezeit gekommen.

Wie arbeiten Sie daran, als Torhüterin das Langzeitgedächtnis abzuschalten und Ihre Fehler schnell abzuhaken?

Das ist wahrscheinlich einer der schwierigsten Aspekte überhaupt. Du musst versuchen, jede Erfahrung – ob positiv oder negativ – als Lernerfahrung zu sehen und das Beste daraus zu machen. Das ist manchmal leichter gesagt als getan. Es ist wichtig, wirklich darauf zu achten, mit welchen Menschen du dich umgibst, ob es nun Mitspielerinnen, Trainer oder Familienmitglieder sind. Sie sind diejenigen, die dir helfen können fokussiert zu bleiben, wenn du einen Fehler gemacht hast. Die Teamkameradinnen können eine echte Unterstützung sein. Für mich war es sehr hilfreich, dass mich unterschiedliche Leute immer wieder daran erinnert haben, wo meine Stärken liegen, und mich ermutigt haben.

Warum eignen Sie sich besonders gut für die Position zwischen den Pfosten? Gibt es bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, aufgrund derer Sie für diese Position prädestiniert sind?

Ich bin ein sehr analytischer Mensch. Ich studiere gern und mag es, Dinge zu analysieren, aufzuschlüsseln und daraus zu lernen. Ich versuche immer, einen Blick für Details zu haben. Ich bin gerne gut vorbereitet. Ich bin eine Planerin. Alles, was ich tue, ist geplant. Ich orientiere mich gern an Zeitplänen, sowohl in der Saisonvorbereitung als auch im Training oder der Spielanalyse, und ich versuche immer, so viel wie möglich aus allem zu lernen.

Was gefällt Ihnen an der Torhüterinnenposition am besten und gibt es Aspekte, die Ihnen noch immer keinen Spaß machen?

Ich mag die intensiven Trainingseinheiten mit vielen Spielen in Kleinteams und Schusstraining, in denen wir an vielen Dingen beteiligt sind. Ich mag gute Fünf-gegen-Fünf-Turniere, das sind mir die liebsten Trainingseinheiten. Was ich am wenigsten mag? Wahrscheinlich, an einem kalten Tag in Chicago einen harten Ball abzubekommen.

Was werden Sie rückblickend von diesem Jahr am stärksten in Erinnerung behalten?

Dieses Jahr war eine Herausforderung und es war lang. Es war ganz anders. Wir sind super in dieses Jahr gestartet, nämlich mit der Olympia-Qualifikation, und haben uns gefreut, dass wir es geschafft haben. Wir haben als Team ein sehr gutes Turnier gespielt und uns wirklich auf Tokio gefreut. Ich war die meiste Zeit des Jahres bei Chicago, mit meinen Teamkameradinnen und dem Trainerstab, und wir haben den Challenge Cup und die Fall Series gespielt. Damit hatten wir etwas, für das wir alle gemeinsam kämpfen konnten, und wir mussten das Beste daraus machen. Wir sind ins Finale des Challenge Cup eingezogen, das heißt, wir sind als Team zusammengewachsen und haben auch dieses Jahr weiter am Wettbewerb teilgenommen und uns verbessert. Ich glaube, ich habe mich seit Jahresanfang als Torhüterin und als Mensch weiterentwickelt. Darauf bin ich stolz.

Am 17. Dezember fällt die Entscheidung

Die Gewinnerinnen und Gewinner in allen Kategorien, einschließlich des FIFA-Fanpreises und des FIFA-Fairplay-Preises, werden am 17. Dezember 2020 ab 19.00 Uhr MEZ in einer TV-Show gekürt.

Alle Nachrichten zu The Best FIFA Football Awards™ finden Sie auf FIFA.com, der offiziellen Facebook-Seite zu The Best FIFA Football Awards™ und dem FIFA-Kanal auf YouTube.

Wer soll Ihrer Meinung nach dieses Jahr gewinnen? Diskutieren Sie mit unter dem Hashtag #TheBest**.**