Dienstag 30 Juni 2020, 12:20

Vom Bankdrücker zum Held

  • 30. Juni 1996: Bierhoff schießt als Einwechselspieler ein Golden Goal

  • Die Geschichte erfolgreicher Einwechselspieler in der Welt des Fussballs ist lang

  • FIFA.com blickt auf die effektivsten Akteure der "Joker"-Zunft

Als Horst Eckel im Oktober 1953 in einem Spiel gegen die Auswahl des Saarlandes eingewechselt wurde, schlug der Deutsche ein neues Kapitel in der Geschichte des Fussballs auf, dessen Bedeutung ihm zum damaligen Zeitpunkt wohl noch nicht ganz bewusst war. Es war die Geburtsstunde der Einwechselspieler. Zwar spielt man im Fussball immer noch elf gegen elf, doch entschieden werden die Begegnungen heutzutage oftmals von zwölf, 13 oder gar 14 Spielern.

Auch andere deutsche Profis haben als Einwechselspieler große Karriere gemacht. Das Paradebeispiel ist die Geschichte von Günter Netzer, dem Spielführer von Borussia Mönchengladbach, während des Pokalfinales 1973 gegen den 1. FC Köln. Nach dem Tod seiner Mutter zog er es vor, zu Spielbeginn auf der Ersatzbank Platz zu nehmen. Als er 20 Minuten vor dem Ende der Begegnung ins Spiel kam, erzielte er den 2:1-Siegtreffer und spielte sich gleichzeitig in die Herzen der deutschen Fussballfans. Als er ein Jahr später auch noch den FIFA WM-Pokal™ gewann, war er definitiv der Liebling der Massen.

Zwei Jahrzehnte später hatte die Geschichte zwar keinen so traurigen Hintergrund, dafür aber ein noch schöneres Ende für die DFB-Auswahl. Und das geschah heute. 30. Juni 1996, vor 24 Jahren: Oliver Bierhoff wurde im Endspiel der UEFA EURO 1996 in der 69. Spielminute gegen die Tschechische Republik eingewechselt, die zu diesem Zeitpunkt mit 1:0 in Führung lag, und brauchte lediglich vier Minuten, um den wichtigen Ausgleichstreffer zu erzielen. Doch der Angreifer begnügte sich nicht mit der Rolle des Retters und avancierte in der Verlängerung durch das erste Golden Goal des Turniers zum gefeierten Helden des neuen Europameisters.

Dass der Matchwinner manchmal auf der Bank sitzt, bewies auch Lars Ricken von Borussia Dortmund im UEFA Champions League-Finale 1997 gegen Juventus Turin. Gerade einmal 16 Sekunden und einen Ballkontakt brauchte der Dortmunder damals, um den dritten Treffer seiner Mannschaft zu erzielen! Der wichtigste europäische Klubwettbewerb scheint generell einen positiven Einfluss auf die Reservisten auszuüben: Zwei Jahre zuvor erzielte Patrick Kluivert nach seiner Einwechslung den 1:0-Siegtreffer von Ajax Amsterdam gegen den AC Mailand, während 2006 Henrik Larsson, der schwedische Nationalspieler in Diensten des FC Barcelona, gegen den FC Arsenal aufs Feld kam und Samuel Eto'o sowie Juliano Belletti zwei Mal mustergültig in Szene setzte. Hinzu kommt, dass der Brasilianer, der den 2:1-Siegtreffer erzielte, erst zehn Minuten zuvor ins Spiel gekommen war.

Solskjær folgt Fairclough

Barcelona war während des Champions League-Finales 1999 Schauplatz des vielleicht unglaublichsten Treffers eines Reservisten. Ole Gunnar Solskjær, der bei Manchester United wegen seiner wichtigen Treffer als Einwechselspieler bereits als Edeljoker bezeichnet wurde, erzielte in der Nachspielzeit den Siegtreffer gegen den FC Bayern München, der eine Minute zuvor noch mit 1:0 in Führung gelegen hatte. Teddy Sheringham, der von Sir Alex Ferguson ebenfalls erst kurz vorher ins Spiel genommen wurde, hatte unmittelbar zuvor für den Ausgleich gesorgt. "Als Teddy traf, dachte ich nur 'Super! Jetzt darf ich noch weitere 35 oder 40 Minuten Champions League-Finale spielen. Das ist unglaublich!'", so der Held nach der Begegnung. Das Spiel dauerte schließlich nur wenige Sekunden länger. Unglaublich war es dennoch.

In elf Spielzeiten bei Manchester hat der Norweger, der 2007 seine Fussballschuhe an den Nagel hängte, für etliche bewegende Momente und eine beeindruckende Statistik gesorgt - und das, obwohl er meistens nicht in der Startformation stand. Man könnte meinen, sein Lebensweg basiere auf einem spannenden Drehbuch. Bei seiner ersten Begegnung für die Red Devils 1996 erzielte er nach seiner Einwechslung zwei Treffer und rettete das Unentscheiden gegen die Blackburn Rovers, die bis zu diesem Zeitpunkt mit 2:0 in Führung lagen. Während des Jahrzehnts bei Manchester erzielte der Norweger einen Großteil seiner 126 Tore erst nach seiner Einwechslung. In besonderer Erinnerung dürfte dabei sein Auftritt gegen Nottingham Forest im Februar 1999 geblieben sein, als Solskjær in weniger als zehn Minuten vier Treffer erzielte. Trotz seines Talents, das ihm bei jedem anderen Klub einen Stammplatz eingebracht hätte, betonte der Baby-faced assassin (Scharfschütze mit dem Baby-Gesicht) immer wieder: "Ich ziehe es vor, hier auf der Bank zu sitzen, statt woanders Stammspieler zu sein!"

Frische Beine

Ironie des Schicksals ist, dass der laut Sir Alex Ferguson "beste Einwechselspieler der Geschichte" in seiner Jugend Fan des Erzrivalen FC Liverpool war, wo in den 70er Jahren zum ersten Mal der Begriff des Jokers die Runde machte. Als die Reds damals halb England in Grund und Boden spielten, hatte David Fairclough unter dem damaligen Trainer Bob Paisley keinen Startplatz in der ersten Elf. Seine Geduld wurde aber von der ersten Saison an belohnt, wo er in 14 Begegnungen sieben Mal erfolgreich war, darunter neun Mal als Einwechselspieler.

In besonderer Erinnerung ist seine Einwechslung gegen AS Saint-Etienne im Viertelfinale des Landesmeisterpokals 1977 geblieben, wo er mit seinem späten Treffer die Verts aus dem Wettbewerb warf und die *Reds *auf den Weg zum ersten Europapokalsieg brachte. "Die Rolle als Einwechselspieler hat meine Karriere nicht gerade gefördert", erinnert sich der Torjäger. "Heute sind Einwechselspieler vor allem frische Beine, die das Spiel ankurbeln sollen. Damals bedeutete der Platz auf der Bank aber, dass man nicht gut genug war, um in der Startelf zu stehen."

Besonders frische Beine hatte trotz seines Alters auch der damals 38-jährige Roger Milla. Bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Italien 1990™ führte der Kameruner die Unzähmbaren Löwen praktisch im Alleingang ins Viertelfinale und erzielte nach seiner Einwechslung gegen Rumänien und Kolumbien jeweils einen Doppelpack. Ein anderer internationaler Star, der Paraguayer Nelson Cuevas, rettete seine Mannschaft im letzten Gruppenspiel der FIFA WM 2002 durch seine Treffer ins Achtelfinale. Die Albirrojos mussten unbedingt gegen Slowenien gewinnen, um den Achtelfinaleinzug perfekt zu machen, lagen aber nach der ersten Hälfte bereits mit 0:1 zurück. Doch dann entschied sich Cesare Maldini, seinen Joker zu bringen. Nach nur vier Minuten gelang ihm der Ausgleich. Weitere 20 Minuten später machte er mit dem dritten Tor seiner Mannschaft den Einzug in die nächste Runde perfekt. Der Joker hatte seine Mission erfüllt und wurde kurz vor Ende der Begegnung sogar noch ausgewechselt!

Glückliches Händchen

Der Trainer Ägyptens bewies im Halbfinale des Afrikanischen Nationen-Pokals 2006 gegen Senegal ebenfalls einen guten Riecher. Auf die Gefahr hin, ein ganzes Land gegen sich aufzubringen, ersetzte Hassan Shehata Publikumsliebling Mido durch den talentierten Amr Zaki. Während der ehemalige Spieler von Olympique Marseille sich ein offenes Wortgefecht mit seinem Trainer lieferte, erzielte der eingewechselte Amr Zaki mit seiner ersten Ballberührung den entscheidenden Treffer des Spiels, und schoss damit die Ägypter ins Endspiel, das sie wenige Tage später ebenfalls gewinnen sollten.

Und was soll man da erst zum glücklichen Händchen sagen, dass Roger Lemerre im Endspiel der UEFA EURO 2000 bewiesen hat? Kurz vor Ende der Partie, in der Italien mit 1:0 führte, kam Sylvain Wiltord in die Begegnung und erzielte nach Vorlage von David Trézéguet, der eine Viertelstunde zuvor ebenfalls von der Bank gekommen war, den wichtigen Ausgleichstreffer. Trezegol markierte anschließend in der Verlängerung auch noch das *Golden Goal, mit dem die *Bleus *Europameister wurden. Das Zuspiel kam von Robert Pirès, der - wie sollte es anders sein - am Anfang auch auf der Bank gesessen hatte.

Es gibt aber auch Einwechselschicksale, die man am liebsten verdrängen würde. Das Intermezzo des Bolivianers Marco Etcheverry bei der FIFA WM 1994 ist eines davon. Nach seiner Einwechselung in der 74. Minute der Begegnung gegen Deutschland wurde El Diablo nur drei Minuten später des Feldes verwiesen. Immerhin blieb die Rote Karte als kleines Souvenir dieses Kurzauftritts.