Mittwoch 06 Mai 2015, 08:55

Koeman: Cruyff war der entscheidende Trainer

Ronald Koeman war ein außergewöhnlicher Fussballer. Der Spezialist für das Spektakuläre gewann mit dem PSV Eindhoven, dem FC Barcelona und den Niederlanden drei europäische Titel und erzielte in seiner Karriere knapp 200 Tore, obwohl er doch eigentlich Verteidiger war. Doch er hängt diese Erfolge nicht an die große Glocke. Obgleich er sich mittlerweile auch als erfolgreicher Trainer etabliert hat, ist Koemans Verhalten weder von Arroganz, noch von der unbeirrbaren Bestimmtheit seines Mentors Johan Cruyff bestimmt.

Seine Schützlinge bei Southampton wissen und schätzen das. "Obwohl er auf dem Platz und an der Seitenlinie eine fantastische Karriere vorweisen kann, ist er weiterhin sehr bescheiden", lobt Ryan Bertrand seinen berühmten Trainer. "Er ist sehr zugänglich und man kann jederzeit mit ihm reden. Natürlich sagt er uns, wenn es im Training zu bunt zugeht oder es nicht richtig läuft. Aber bei allem was er sagt und tut, umgibt ihn diese Aura der Bescheidenheit."

Wäre Koeman hingegen ein auftrumpfender Typ, hätte er derzeit guten Grund dazu. Denn unter ihm hat Southampton sämtliche Erwartungen übertroffen und sich zu einer der großen Erfolgsgeschichten in der laufenden Premier-League-Saison entwickelt. Vier Spieltage vor Saisonende hat das Team bereits einen neuen Punkterekord für den Klub aufgestellt. Dabei hatte es zu Beginn der Saison allerlei Schwarzmalerei und Spötteleien gegeben, nachdem der Klub nahezu alle Leistungsträger der vergangenen Spielzeit verkauft hatte.

Koeman selbst hatte bei seinem Amtsantritt bei dem Klub, der gerade Spieler wie Luke Shaw, Adam Lallana, Dejan Lovren, Rickie Lambert und Calum Chambers für insgesamt GBP 91 Mio. verkauft hatte, unbeabsichtigt zum Spott beigetragen, als er ein Bild des leeren Trainingsplatzes mit der Unterschrift: ‘Bereit fürs Training’ twitterte. Die Fans, die angesichts des dezimierten Kaders einen Kampf gegen den Abstieg befürchteten, wollten die Ironie dabei nicht erkennen.

Allen Widerständen getrotzt Doch schon bald waren die Befürchtungen überwunden. Ende Oktober lag Southampton auf Tabellenplatz zwei hinter dem FC Chelsea und hatte damit alle Unkenrufe widerlegt. Koeman hatte mit seiner demonstrativ ruhigen Einstellung genau richtig gelegen. "Ich war eigentlich immer ziemlich zuversichtlich", so Koeman gegenüber FIFA.com. "Alle konzentrierten sich nur auf die Abgänge, aber ich war ganz ruhig und fühlte mich gut vorbereitet auf das, was vor uns lag. Bei dieser negativen Grundeinstellung war es sehr wichtig, dass ich meine Ruhe und Zuversicht auf die Spieler übertragen konnte. Aber es war auch ehrlich – Ich habe tatsächlich immer daran geglaubt, dass wir eine gute Saison vor uns haben.

"Es mag sich merkwürdig anhören, doch ein entscheidendes Spiel war wohl die 1:2-Niederlage bei Liverpool gleich zu Saisonbeginn. Wir haben zwar verloren, doch unsere Leistung damals war sehr gut. Damit haben wir die Messlatte ziemlich hoch gelegt. Alle konnten erkennen, dass es positive Entwicklungen gab. Außerdem hat diese Partie den Spielern Selbstvertrauen gegeben. Von diesem Moment an wurde unser Selbstvertrauen größer, von Spiel zu Spiel. Ich bin überzeugt, dass diese Entwicklung noch weiter geht. Wir haben guten Grund, optimistisch nach vorn zu blicken."

Mittlerweile sind die Fans und die Experten gleichermaßen optimistisch bezüglich der Aussichten Southamptons unter Koeman. Der Niederländer wird mit wohlverdientem Lob geradezu überschüttet und von Kollegen und Experten gleichermaßen als würdiger Kandidat als Trainer des Jahres in England genannt. Doch er verzichtet darauf, seine eigene Leistung in den Vordergrund zu stellen. Stattdessen sprach er dem Klub ein Lob aus, der zur Zeit seiner Ernennung weithin als nicht angemessen für einen Mann seines Talentes angesehen wurde.

Koeman erzählt: "Ich wurde immer wieder gefragt: ‘Warum ausgerechnet Southampton? Warum nicht ein Klub mit einem größeren Namen?’ Aber ich habe es nicht so empfunden, dass ich zu einem kleinen Klub komme. So sehe ich Southampton überhaupt nicht. Ich wollte Teil eines Klubs sein, der vorwärts denkt, der sich auf die Förderung junger Nachwuchstalente konzentriert und darauf aufbaut. Das ist es ja auch, was ich in Holland kannte und so sehr mochte. Der Klub bietet hervorragende Rahmenbedingungen. Die Nachwuchsakademie ist fantastisch, die Anlagen und Einrichtungen erstklassig – ein guter Klub mit einer langfristig angelegten Strategie. Ich genieße es, daran beteiligt zu sein und finde es auch als Trainer interessant. Ich hatte gleich das Gefühl, dass dies der richtige Klub für mich ist.

Außerdem waren die Leute hier von Beginn an in unseren Diskussionen sehr geradlinig. Man wollte die oberen Ränge in der Liga anstreben und mir wurde außerdem zugesagt, dass ich das Geld aus dem Verkauf der vielen Spieler wieder investieren dürfe. Und man hat Wort gehalten."

England als unbekanntes Terrain Und so wurden die Lücken in Koemans Kader zügig geschlossen, mit Bertrand, Fraser Forster, Florin Gardos, Shane Long, Sadio Mane, Graziano Pelle und Dusan Tadic. Southampton stand am Ende nicht geschwächt und ausgeblutet da, sondern stärker und ausgeglichener als zuvor. "Ich kannte ein paar der Spieler bereits aus Holland. Daher hat es mich gar nicht so sehr überrascht, wie gut sie sich in ihrer ersten Saison hier entwickelt haben", so Koeman. "Ich war immer überzeugt, dass sie sich gut anpassen können."

Die Anpassung an die Premier League war allerdings auch für den Trainer selbst eine Herausforderung, da er zuvor keinerlei Erfahrung im englischen Fussball gesammelt hatte. Seine Karriere als Spieler verbrachte Koeman ausschließlich in seiner Heimat und in Spanien. Als Trainer war er für Ajax Amsterdam, PSV Eindhoven und Feyenoord Rotterdam tätig. Damit war er der erste Akteur, der sowohl als Spieler wie auch als Trainer für die "Großen Drei" seines Landes tätig war. Außerdem war er noch Trainer bei Vitesse Arnheim, AZ Alkmaar, dem FC Valencia und Benfica Lissabon. Inwiefern sieht er seine Erwartungen an den englischen Fussball nach nunmehr elf Monaten erfüllt?

"Ich würde schon sagen, dass alles ziemlich genau meinen Erwartungen entspricht, und zwar im positiven Sinne. Alles, was über die hiesige Fussballkultur gesagt und geschrieben wird – die Atmosphäre in den Stadien, der Respekt für die Spieler – trifft zu. Die Spiele sind regelrechte physische Kämpfe, bei gleichzeitig hoher Qualität. Es gibt keine leichten Spiele. Selbst der Spitzenreiter kann gegen ein Team aus dem Tabellenkeller verlieren und die meisten Spiele sind sehr enge Angelegenheiten. Man weiß ja, dass sich die niederländische Liga auf einem niedrigeren Niveau bewegt, doch selbst in Spanien gibt es keinen derartig harten Konkurrenzkampf. Ich glaube beispielsweise nicht, dass Ronaldo, der unbestritten ein fantastischer Spieler ist, auch in England 40, 50 Tore pro Saison schießen würde."

Koemans Zufriedenheit in England ist zum Teil sicher auch auf eine weitere Verpflichtung im Sommer zurückzuführen, die möglicherweise sogar die wichtigste war. Sein älterer Bruder Erwin stand ihm meist als Gegner im anderen Team gegenüber. Einzig zu Beginn der Karriere bei Groningen und später in der Nationalmannschaft spielten sie zusammen. Jetzt arbeiten sie gemeinsam für Southampton. Erwin ist dabei der Assistent des Mannes, der kürzlich über ihn sagte: "Er ist nicht nur mein Bruder sondern auch mein bester Freund."

"Ich genieße unsere Zusammenarbeit sehr. Sie hat diese Saison noch stärker zu etwas ganz Besonderem gemacht", so der jünger Koeman-Bruder. "Erwin ist keineswegs nur hier, weil er zur Familie gehört. Er ist vielmehr selbst ein sehr guter Trainer, der einen ganz eigenen und wertvollen Beitrag leistet. Wir haben sehr verschiedene Eigenschaften und unsere Persönlichkeiten ergänzen sich gegenseitig. Wir arbeiten sehr gut zusammen."

Den älteren Bruder überholt Zu Beginn ihrer Spielerkarriere galt Erwin als der vielversprechendere der Koeman-Brüder. Er legte auch eine sehr respektable Karriere hin und spielte insgesamt 31 Mal für die Niederlade, doch es war sein jüngerer Bruder, der sich tatsächlich als einer der Großen seiner Generation in den Fussball-Geschichtsbüchern verewigte. Koeman schlug mühelos Pässe über 50 Meter, verfügte über einen enorm kraftvollen Schuss und konnte Freistöße zentimetergenau platzieren. Dank dieser Qualitäten konnte er sich trotz seiner Position in der Abwehr als einer der torgefährlichsten Akteure seiner Teams etablieren. Und wenn man sich heute Videoclips seiner außerordentlichen Leistungen ansieht, fragt man sich unwillkürlich, ob es je wieder einen solch beweglichen und torgefährlichen Libero geben wird. Ein heutiger Verteidiger als Torschützenkönig der UEFA Champions League – so wie Koeman in der Saison 1993/94 – ist nahezu unvorstellbar.

"Ich war ein Verteidiger, der eigentlich gar kein richtiger Verteidiger war", so Koeman selbst. "Ich konnte so viele Tore schießen, weil ich sehr oft aus der Verteidigung heraus ging. Genau das haben meine Trainer von mir auch erwartet und gefordert. Auch Standardsituation gehörten zu meinen Stärken, doch ich war auch im normalen Spiel oft in der richtigen Position, um es mit einem Distanzschuss zu versuchen. Das sieht man bei Verteidigern heute nicht mehr sehr oft.

Sie wollen wissen, ob wir jemals wieder einen solchen Spieler zu sehen bekommen? Ich weiß es wirklich nicht. Der Fussball entwickelt sich unaufhörlich weiter. Man muss die individuellen Fähigkeiten eines Spielers erkennen und sie optimal nutzen. Aber heute stehen Verteidiger viel stärker unter dem Druck, zuallererst verteidigen zu müssen, das ist wichtiger als alles andere. Für Verteidiger geht es fast ausschließlich darum, das eigene Tor sauber zu halten."

Koeman profitierte davon, dass seine Trainer und Förderer seinen Wert an beiden Enden des Spielfelds erkannten. Darunter sind zwei der größten Namen aller Zeiten, nämlich Rinus Michels und Johan Cruyff. Unter Michels trug Koeman mit dem triumphalen Titelgewinn bei der UEFA Europameisterschaft 1988 in Deutschland zum Ende des langen Wartens auf den ersten internationalen Titel bei. Unter Cruyff war er ein zentraler Bestandteil des 'Dream Team' vom FC Barcelona, gemeinsam mit Akteuren wie Romario, Hristo Stoichkov und Josep Guardiola. Es gibt allerdings keinerlei Zweifel, welcher der beiden Trainer ihn stärker geformt hat.

Zum Höhepunkt dank Cruyff "Beide waren fantastische Trainer, doch Cruyff hatte den größten Einfluss auf mich, ganz klar", so Koeman. "Ich habe großartige Jahre unter Rinus Michels erlebt,  zunächst eines bei Ajax, dann in der Nationalmannschaft. Aber Cruyff war der entscheidende Trainer meiner Karriere. Unter ihm habe ich viele tolle Jahre erlebt – meine besten Jahre. Bei Barcelona Teil des 'Dream Team' zu sein, war der Höhepunkt meiner Karriere. All die Erfolge die wir hatten und der fantastische Fussball, den wir spielten, waren Cruyff zu verdanken. Das ist die schwierigste Form des Erfolgs, nämlich mit diesem schönen Angriffsfussball – doch Cruyff hat es geschafft und es möglich gemacht."

Cruyff und Michels gelten in erster Linie als Meister des totalen Fussballs, doch sie waren natürlich auch Vorbilder und Pioniere für zahlreiche spätere niederländische Trainer. In deren erlauchte Fußstapfen traten seitdem Übungsleiter wie Louis van Gaal und Guus Hiddink und nun auch die aktuelle Generation mit Namen wie Frank de Boer, Phillip Cocu und eben Koeman selbst. Woran liegt es, dass ein kleines Land mit nur 16 Millionen Einwohnern so viele erfolgreiche Fussballtrainer hervorbringt und exportiert?

"Ich glaube, das liegt einfach in unserer Natur", so Koeman. "Wo immer man einen Niederländer hinstellt, wird er versuchen, sich anzupassen, die Kultur kennenzulernen und Erfolg zu haben. Wir alle lieben den Fussball und verfolgen das gleiche, grundlegende Ziel, nämlich schönen Offensivfussball. Ich glaube, dass es daran liegt, dass es rund um die Welt so viele niederländische Trainer – und so viele erfolgreiche niederländische Trainer – gibt. Und unser normalerweise ziemlich intaktes Selbstvertrauen ist natürlich auch hilfreich!"

Das Selbstvertrauen scheint in den meisten Fällen gerechtfertigt. Koeman allerdings beweist, dass sich Selbstvertrauen und Bescheidenheit nicht gegenseitig ausschließen müssen. Und davon profitiert in erster Linie Southampton.