Dienstag 05 Januar 2016, 08:10

Die Schattenmänner zwischen den Pfosten

Für einen Profifussballer gibt es wohl kaum ein unbefriedigenderes Gefühl als auf der Bank zu sitzen. In der Regel sitzen dort Rekonvaleszenten. Oder Talente, die langsam an die Mannschaft herangeführt werden. Oder die berühmten Joker. Einwechselspieler jedenfalls, die auf eine Chance warten müssen, sich zu zeigen. Und dort sitzen sie dann und warten. Sie müssen sich bereit halten für den Fall, dass sich ein Mannschaftskamerad verletzt, ausgepumpt ist, taktisch umgestellt wird.

Und auf jeder Auswechselbank sitzt einer, dem eine ganz besondere Rolle zukommt. Der Ersatztorhüter. Nur ein verschwindend kleiner Anteil kommt je in die Verlegenheit, während eines Spiels eingewechselt zu werden. Falls doch, sind Verletzungen oder Platzverweise der etatmäßigen Nummer eins der Grund. Die meisten aber wissen, dass sie während einer Saison nur Bankdrücker sind. Wie also fühlt so eine klassische Nummer zwei?

"Die Leute dachten, ich bin mit meinem Platz auf der Bank glücklich. Das war ich aber ganz und gar nicht", sagt etwa Steve Harper im Exklusiv-Gespräch mit FIFA.com. Der ehemalige Torhüter von Newcastle United war mehrere Jahre der Mann hinter dem gesetzten und unumstrittenen Shay Given. Nach seinem Wechsel zu Newcastle im Jahr 1993 arbeitete er sich zwar immer mal wieder in die erste Elf, ab 2001 aber war der Lokalmatador meist nur Ersatz.

"Für mich ging es darum, 199 Spiele für Newcastle vor 52.000 Fans zu absolvieren, oder aber doppelt so viele in einer niedrigeren Liga bei einem weniger renommierten Klub", so Harper weiter. "Ich würde mich immer wieder für Newcastle entscheiden."

Tatsächlich werden Ersatztorhüter so manches Mal zum Inventar bei ihren Vereinen, zu Aushängeschildern, denen der Respekt und die Dankbarkeit der Fans gehört. Entsprechend ist Steve Harper durchaus kein Einzelfall. Auf der ganzen Welt gibt es diese (vereins)treuen Seelen, die klaglos die wichtige, aber auch undankbare Aufgabe des ewigen Ersatzmannes übernehmen.

Remy Vercoutre, inzwischen Stammtorhüter bei Caen in der Ligue 1, hatte sich zuvor bei Lyon den Status einer solchen "Kultfigur" erworben. Er verbrachte über ein Jahrzehnt bei den Gones. In seine Zeit fiel die erfolgreichste Periode der Vereinsgeschichte. Vercoutre wurde allein fünf Mal französischer Meister. Allerdings blieb dem treuen Vercoutre meist nur die Zuschauerrolle. Immer wieder wurde ihm ein anderer Stammtorhüter vor die Nase gesetzt. Natürlich bekam er in seinen zwölf Jahren im Stade de Gerland seine Chancen, doch nur während einer Spielzeit war er auch die Nummer eins.

"Es war eine logische Entscheidung", sagte Vercoutre der Zeitung La Voix du Nord 2010 auf die Frage nach seinem Dasein als Ersatztorhüter. "Ich hatte schlicht keine interessanten Wechselmöglichkeiten. Ich wollte nicht bei einem anderen Klub versauern. Heute denke ich, die Leute im Verein und in der Stadt schätzen mich. Daher kann ich mit dieser logischen Entscheidung sehr gut leben. Es stimmt zwar, dass ich weniger spiele, aber wenn ich spiele, sind es wenigstens wichtige Partien in vollen Stadien."

Manchmal hat die Rolle des Ersatzmannes aber auch schlicht und ergreifend etwas damit zu tun, dass an dem großen Namen zwischen den Pfosten kein Vorbeikommen ist. So war es etwa bei Stefan Wessels zwischen 1999 und 2003 bei Bayern München, als der legendäre Oliver Kahn die unumstrittene Nummer eins war.

"Auch wenn ich die meiste Zeit meiner Karriere Ersatztorhüter war, habe ich mich doch immer wie ein vollwertiges Mitglied der Mannschaft gefühlt", sagte Wessels einst dem Fussballmagazin 11Freunde.* *"Natürlich hat Kahn mehr zum Gewinn der Champions League beigetragen als ich, aber der Titel gehört trotzdem auch mir. Ich glaube, 99 Prozent aller Profis beneiden mich um meine Karriere."

Raimond van der Gouw war 32, als er sich bewusst entschied, bei Manchester United die Nummer zwei hinter Peter Schmeichel zu werden. Im Herbst seiner Karriere wollte sich der Niederländer noch das eine oder andere von dem Dänen abschauen.

"Es war sehr gut zu sehen, wie er trainiert, wie er sich fokussiert. Das sind Dinge, die man wissen muss, wenn man in einem Spitzenverein spielt", erklärte Van der Gouw bei StrettyNewsTV. "Man blickt ja immer zurück und denkt: 'Hätte ich doch mehr gespielt!' Aber ich schätze mich sehr glücklich. Ich war Teil der Mannschaft und so habe ich mich auch gefühlt."

Ersatztorhüter erfüllen in all ihren Vereinen also eine wichtige und notwendige Aufgabe, die für den Gesamterfolg unabdingbar ist. Dennoch gibt es immer wieder auch Momente des Selbstzweifels und unglaublicher Schwierigkeiten für die vielleicht einsamsten Männer im ganzen Kader.

"Ich hatte einige düstere Stunden und schwere Prüfungen zu überstehen", sagt Steve Harper beispielsweise über jene fünf Jahre, in denen er nur zwei Spiele in der englischen Premier League absolvierte. "Ich konnte mich zum Glück auf die Hilfe meiner Familie und einiger guter Fachleute im Klub verlassen, die mir in dieser Zeit beigestanden haben."

Auch Stuart Taylor, dessen Karriere zwischen den Pfosten einst beim FC Arsenal einen verheißungsvollen Anfang nahm, ehe er seine Laufbahn als Ersatztorhüter bei diversen Erstligavereinen in England fortsetzte, kennt das nur zu gut.

"Natürlich fühlt man sich, als wäre man vom Radar verschwunden", sagte er einst dem Daily Star. "Wenn die Leute einen nicht spielen sehen, fühlt man sich vergessen. Ich gehe davon aus, dass mein Name untrennbar mit dem Begriff 'Ersatztorhüter' verknüpft ist. Das schmerzt, weil ich das Gefühl habe, mehr zu können. Ich bin ja nicht Fussballer geworden, um meinen Lebensunterhalt mit täglichem Training zu verdienen.  Aber jeder Torhüter braucht eben einen Vertreter. Einer muss den Job machen. Aber es ist schwierig und es war für mich ein mentaler Härtetest."

Im Verlauf ihrer Karriere werden Torhüter in der Kabine häufig zu Elder Statesmen. Immerhin erlaubt ihnen ihre Position recht häufig, auch mit jenseits der 40 noch auf dem Platz zu stehen. Dieses Erfahrungsniveau und die daraus resultierende Möglichkeit, anderen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, schätzt Harper als großes Plus ein, wenn er auf eine Karriere zurück blickt, die ihn zum dienstältesten Spieler bei Newcastle gemacht hat.

"Wahrscheinlich habe ich den jungen Torhütern und überhaupt anderen Torhütern immer zu sehr geholfen, als dass es für mich gut gewesen wäre", sagt er. "Aber so bin ich eben. Vielleicht ist deshalb auch mein weiterer Werdegang als Trainer vorgezeichnet. Damit ich weiter anderen helfen kann. Ob ich es bedauere, anderen zu helfen? Nein. Ich lege mich abends mit dem Gedanken hin, jemandem zu einem Anfang im Fussball verholfen zu haben."

Das letzte Wort darüber, wie Ersatztorhüter ticken, soll José Manuel Pinto gehören, dem Ersatzmann hinter Victor Valdes beim FC Barcelona, der zum Ende seiner Karriere noch einmal unzählige Titel sammelte. Pinto wurde oft gefragt, ob es ihn kümmere, was andere davon hielten, dass er lieber die Nummer zwei bei Barça war, als noch einmal den Kampf zwischen den Pfosten bei einem anderen Verein zu suchen.

"Mich kümmert nicht, was andere denken", erklärte er bei ESPN. "Niemand weiß besser als man selbst, ob man mehr oder weniger hätte erreichen können. Mit Meinungen ist es letztlich wie mit Hintern: Davon hat auch jeder einen."