Die Kunst, Elfmeter zu halten

Ein Elfmeter ist eine fussballerische Extremsituation, denn er bedeutet für den Schützen eine hervorragende Torchance und entscheidet häufig über den Ausgang eines Spiels.

Der ominöse Punkt ist nur elf Meter vom Tor entfernt – so nah, dass der Schütze gegenüber dem Torhüter bei diesem Duell erheblich im Vorteil ist. Wie schmal der Grat zwischen Sieg und Niederlage sein kann, zeigte sich einmal mehr am vergangenen Freitag im Viertelfinale des Olympischen Fussballturniers der Frauen 2016 zwischen Brasilien und Australien. Der Gastgeber stand nach dem Fehlschuss von Kapitänin Marta vor dem Aus, doch Barbara hielt ihr Team mit einer Glanzparade gegen Alanna Kennedy im Spiel.

"Meine Verantwortung stieg in diesem Moment ins Unermessliche", so die Torhüterin nach der Partie. "Ich konnte es Marta nicht antun, dass sie mit dem Schmerz eines vergebenes Elfmeters leben muss. Sie ist eine außergewöhnliche Person und Spielerin."

In der Geschichte des runden Leders gibt es eine Vielzahl solcher Heldengeschichten. Paul Cooper beispielsweise parierte als Torhüter von Ipswich Town und Gewinner des UEFA-Pokals 1981 n in der englischen Ligasaison 1979/80 sage und schreibe acht von zehn gegen ihn getretenen Elfer. Was war das Geheimnis hinter dieser außergewöhnlichen Elfmeterbilanz?

"Ehrlich gesagt bestand mein Geheimnis nur darin, dass ich nach den ersten paar gehaltenen Elfmetern einfach den Ruf des Elfmetertöters hatte. Das hat dann wohl die Schützen nervös gemacht – zu meinem Vorteil", so Cooper im Gespräch mit FIFA.com.

"Meine Philosophie bestand darin, den Schützen dazu zu bringen, den Ball dahin zu schießen, wo ich ihn haben wollte. Man muss gegenüber dem Schützen sehr viel Selbstvertrauen an den Tag legen. Nachdem ich also ein paar Elfmeter gehalten hatte, begann es in den Köpfen der Schützen zu rumoren: ‘Dieser Typ ist ein Elfmetertöter…’ Entsprechend schrumpfte ihr Selbstvertrauen, während meines immer weiter wuchs.

Das kam mir natürlich sehr zugute. Es setzte die Schützen einfach unter Druck wenn sie dachten, dass sie einem solchen Elfmeterspezialisten gegenüberstanden."

Psychologie ist allesCooper liefert damit zwar eine enorm bescheidene Erklärung für seine beeindruckende Bilanz, doch auch er bestätigt, dass die Psychologie beim Elfmeter eine entscheidende Rolle spielt. Wer beim Elfmeterschützen Zweifel am eigenen Können sät, der hat das Duell schon halb gewonnen. Der Ausgang des Elfmeterschießens entscheidet bei Pokalwettbewerben oder Turnieren meist über das Ausscheiden oder den Sprung in die nächste Runde. Da so viel auf dem Spiel steht, versuchen die Torhüter natürlich alles mögliche, um ihrem Team zum Erfolg zu verhelfen.

Wie sehr sich die Psychologie beim Elfmeterschießen auswirken kann, zeigte der niederländische Ersatztorhüter Tim Krul auf unvergessliche Weise im Viertelfinale der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Brasilien 2014™, als er zum Ende der zweiten Halbzeit der Verlängerung eingewechselt wurde und dann im Elfmeterschießen bei allen fünf gegnerischen Schüssen in die richtige Ecke flog und zwei Elfmeter parieren konnte.

Allerdings war es keineswegs nur die richtige Intuition, die dem Schlussmann von Newcastle United ermöglichte, bei dieser Partie stets die richtige Ecke zu wählen. Er habe einen psychologischen Trick angewandt, um die gegnerischen Schützen zu verunsichern, gestand der Niederländer später.

"Ich sagte den Spielern einfach, ich wüsste genau, wohin sie schießen werden, um sie ein bisschen nervös zu machen", so Krul bereits im Juli 2014 im Gespräch mit FIFA.com. "Das hatte ich schon einmal versucht, als Frank Lampard einen Elfmeter gegen mich schießen sollte. Ich sagte einfach, ich wüsste wohin er schießt, und dann habe ich den Schuss gehalten. Genau das habe ich einfach noch einmal versucht. Ich bin sehr froh, dass es funktioniert hat."

Eine Frage der Logik Die wohl beeindruckendste Leistung aller Zeiten bei einem Elfmeterschießen zeigte Schlussmann Helmuth Duckadam von Steaua Bukarest im Finale des Europapokals der Landesmeister 1986 gegen den FC Barcelona. Der Rumäne mit Nerven wie Drahtseile hielt alle vier gegnerischen Elfmeter und verhalf seinem Team damit zum ersten europäischen Titelgewinn. Während das Elfmeterschießen immer wieder als 'Lotterie' oder 'Glücksspiel' bezeichnet wird, verließ sich Duckadam bei seinen Entscheidungen lieber auf die Logik.

"Ich habe einfach versucht, mich in die Lage des Schützen zu versetzen", sagte der Held von Sevilla gegenüber UEFA.com. "Es war eine Frage der Logik. Nachdem ich den ersten Elfmeter von Alexanko gehalten hatte, versetzte ich mich in die Lage des nächsten Schützen und stellte mir seine Gedanken vor: 'Wenn der Torhüter gerade einen Elfmeter rechts gehalten hat, was würde ich jetzt tun?'

"Der Torhüter würde beim nächsten Schuss wohl eher nach links springen – also sprang ich wieder nach rechts! Das funktionierte auch beim dritten Elfmeter. Ich war 100-prozentig sicher, dass auch Pichi Alonso nach rechts schießen würde, denn es war ja nur logisch, nachdem der Torhüter zwei Mal auf der gleichen Seite gehalten hatte, würde er nun ganz bestimmt beim dritten die andere Seite wählen – also zielte auch er wieder auf die gleiche Stelle."

Der 82-fache U.S.-Nationaltorhüter Brad Friedel sagt, Torhüter können ihren Instinkt unterstützen, indem sie ihren jeweiligen Gegner genau beobachten. Friedel, der vor wenigen Wochen zum Trainer der U-19-Nationalmannschaft der USA ernannt wurde, achtete stets genau auf das Standbein der Elfmeterschützen und erahnte so, wohin sie wahrscheinlich schießen würden.

"Es gibt ein paar Kleinigkeiten, auf die man achten muss. Ich habe immer auf das Standbein geschaut", so Friedel gegenüber RTE. "Weil man dabei allerdings bis zur allerletzten Sekunde warten muss, bevor man sich bewegt, muss man sehr schnell und sehr kraftvoll sein, um es noch zu schaffen.

Wohin der Standfuß zeigte, dorthin ging meistens auch der Schuss. Das ist natürlich keine 100-prozentig exakte Wissenschaft, viel davon ist Instinkt. Doch es gibt durchaus andere Dinge, auf die man achten kann. Wie lang ist der Anlauf, in welchem Winkel läuft der Spieler an, um wie viel geht es?

Wenn bei einem besonders wichtigen Spiel in den Augen eines rechtsfüßigen Spielers ein kleiner Selbstzweifel aufflackerte, dann sagte mir mein Instinkt, er würde von mir aus gesehen nach links schießen, denn so ist es leichter, zu treffen."