Samstag 03 Oktober 2020, 05:43

Die Erfolge des ostdeutschen Fussballs

  • 3. Oktober: Tag der deutschen Einheit

  • "Ost" schaffte etwas, was "West" nie schaffte

  • "Es ist fast ein Gottesgeschenk"

Wir schreiben den 30. September 1989. Auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag erklärt Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." Der Rest von Genschers befreienden Worten geht im großen Jubel der unzähligen DDR-Flüchtlinge unter.

Es ist einer der berühmtesten Halbsätze der deutschen Geschichte. Einer der größten Momente des Landes. Und einer der Meilensteine, der schlussendlich am 3. Oktober 1990 zum Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland führte - dem Tag der Deutschen Einheit.

Auf Jahre unschlagbar

Nicht nur die Menschen und das Land vereinigten sich, sondern auch die Fussball-Nationalmannschaften aus BRD und DDR. Namhafte Kicker aus dem Osten trafen auf Weltstars wie Lothar Matthäus, Rudi Völler, Andreas Brehme, Jürgen Klinsmann und Co. "Kaiser" Franz Beckenbauer prophezeite, auf Jahre hinaus unschlagbar zu sein. Doch es kam anders. Unterschiede wurden deutlich. Das Verschmelzen nach dem Mauerfall vor 30 Jahren benötigte seine Zeit.

"Die deutsche Nationalmannschaft war sehr viel professioneller gestaltet. In der BRD sind wir immer in die besten Hotels gegangen und hatten Rundumbetreuung. Das ist jetzt noch extremer geworden. Man hat den Spielern alles abgenommen. Das war in der DDR-Nationalmannschaft anders", erinnert sich Ulf Kirsten einst im Interview mit FIFA.com und ergänzt: "Die DDR hätte ohne Weiteres eine sehr gute Mannschaft gehabt und international sicherlich mithalten können. Inwieweit wir Erfolg gehabt hätten, ist eine andere Frage. Ich glaube aber schon, dass, wenn wir die Chance gehabt hätten, noch eine EM- oder WM-Qualifikation zu spielen, wir es auch geschafft hätten." Der gefürchtete Torjäger brachte es auf 34 Treffer in exakt 100 Länderspielen - 49 für die DDR, 51 für das vereinte Deutschland.

Die Erfolge der "Brüder"

Was man nicht vergessen darf: Auch die DDR hat in der Fussballgeschichte eine ruhmreiche Vergangenheit. Das Wunder von Bern, die drei WM-Triumphe, die 1974, 1990 und 2014 folgten sowie die drei Europameistertitel sind weltweit und vor allem natürlich in Deutschland bekannt. Weniger Verbreitung hat die Fussballgeschichte der Nationalmannschaft der DDR erfahren.

Bei den Olympischen Spielen kann die ostdeutsche Auswahl des Deutschen Fussball-Verbands (DFV) beispielsweise die des Westens übertrumpfen. Die besondere Stärke der DDR-Olympiaauswahl erklärt sich unter anderem auch damit, dass es sich hierbei im Kern um die A-Nationalmannschaft des Landes handelte – denn für die westlichen Nationen starteten keine Profispieler, während die Ostspieler allesamt als "Amateure" galten und damit startberechtigt waren.

Man spricht heute noch gerne davon, dass die westdeutsche Nationalmannschaft der 1970er mit dem EM- und WM-Titel (1972/74), die beste der DFB-Geschichte sei. So ähnlich kann man das auch für die DDR-Auswahl festmachen, deren stärkste Phase ebenfalls in den 1970ern lag.

Schon 1972 bei den Olympischen Spielen in München hatte sich dies angedeutet, als die DDR-Elf gegen die westdeutsche Olympiaelf um den Einzug ins kleine Finale spielte und sich gegen eine Mannschaft, in der immerhin Uli Hoeneß mitkickte, mit 3:2 durchsetzte und später Bronze sichern konnte. Der ganz große Coup folgte aber vier Jahre später in Kanada mit der Goldmedaille.

Zwar komplettierte die DDR-Auswahl 1980 in Moskau mit Silber ihre olympische Medaillensammlung, doch den größten Paukenschlag ihrer Fussballgeschichte setzte die DDR-Mannschaft auf der größten Bühne – der FIFA-Fussball-WM 1974 im Nachbarland Bundesrepublik Deutschland. Der Losgott wollte es so, dass die beiden Bruderstaaten schon in der Vorrunde gegeneinander antreten mussten und der turmhohe Favorit aus Westdeutschland unterlag durch ein Tor von Jürgen Sparwasser mit 0:1.

Auch bei den Junioren-Fussballweltmeisterschaften kann die DDR auf Erfolge verweisen, obwohl man nur 1987 und 1989 an der FIFA U-20-Weltmeisterschaft teilnahm. Doch 1987 in Chile scheiterte das Team im Halbfinale nur knapp mit 1:2 an Jugoslawien, sicherte sich dann aber im Spiel um Platz drei gegen den Gastgeber im Elfmeterschießen Rang drei.

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Zwischen Unterschieden und Gemeinsamkeiten

Eduard Geyer, seines Zeichens letzter DDR-Auswahltrainer, verriet einmal, dass er sich gewünscht hätte, dass "die Mauer nur ein Vierteljahr später aufgegangen wäre. Ich wollte schon gerne zur WM fahren." Während der letzte WM-Traum der DDR-Fussballer platzte - es wäre die zweite Teilnahme am weltweiten Gipfeltreffen nach 1974 gewesen -, holte die DFB-Auswahl in Italien die Trophäe.

Unterschiede gibt es nach wie vor. Im Vereinsfussball traten 14 Klubs in der Saison 1990/91 der DDR-Oberliga gegeneinander an, zwei von ihnen durften sich anschließend in die Bundesliga eingliedern: Meister Hansa Rostock und Vize-Champion Dynamo Dresden. Sechs weitere Klubs kamen in die Zweite Bundesliga. Keiner dieser Vereine ist heute noch in den ersten beiden Ligen vertreten.

Schneider: "Da gab es schon Unterschiede"

Ein Mann, für den die Geschehnisse von damals auf den späteren Verlauf seiner Karriere einen großen Einfluss haben sollten, ist Bernd Schneider. "Wir haben uns natürlich darüber in der Mannschaft ausgetauscht", erinnert er sich einst im Exklusiv-Gespräch mit FIFA.com. "Klar gab es Überlegungen, dass für einen die Bundesliga nun doch einmal in greifbare Nähe rücken könnte."

Zu jenem Zeitpunkt war der spätere Weltklasse-Mittelfeldmann gerade einmal 15 Jahre alt. Er spielte für Carl Zeiss Jena und wechselte 1998 in den Westen zu Eintracht Frankfurt. Schneider absolvierte schließlich 81 Länderspiele und war Vize-Kapitän der Auswahl des Deutschen Fussball-Bundes (DFB). 2006 hatte der Filigrantechniker die große Ehre, den Gastgeber bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 2006™ im Eröffnungsspiel als Kapitän auf das Feld zu führen.

Die Grundlagen für seine glanzvolle Karriere legte Schneider in der Trainingsarbeit im Osten, den Feinschliff bekam der "weiße Brasilianer", wie er später wegen seiner hervorragenden Ballbehandlung genannt wurde, dank westdeutscher Einflüsse. "Ich habe früh Trainer bekommen, die aus dem Westen kamen. Da gab es schon Unterschiede. Sie haben mehr Wert auf taktische und technische Inhalte gelegt. Im Gegensatz zur DDR, wo die Physis sehr wichtig war, also Training und Übungen für Ausdauer und Kraft. Das hatte sich über die Jahrzehnte in zwei unterschiedliche Richtungen entwickelt."

Kirsten: "Daran musste man sich gewöhnen"

Noch bewusster mitbekommen hat die historischen Monate Ende 1989 und Anfang 1990 Kirsten. Der Angreifer erlebte die Wiedervereinigung als Mitte 20-Jähriger und Spieler von Dynamo Dresden. Später stieg er im Westen zu einem der besten deutschen Angreifer seiner Zeit auf. "Für uns war neu, dass viele Berater und Manager von Vereinen bei Spielen oder beim Training zugegen waren und wir hin und wieder angesprochen wurden. In der Rückrunde 1990 ist das massiv aufgetreten, dass uns viele Interessenten kontaktiert haben", so Kirsten über "seine" Wende-Zeit. "Trainiert haben wir im Osten definitiv mehr, jeden Tag zwei Mal. Einen freien Tag gab es eigentlich nie. In der Bundesliga war und ist es normal, dass einen Tag nach dem Spiel nur noch Auslaufen und der zweite Tag frei ist. Das war für uns Neuland."

Sammer und der neue Ruhm im Westen

Wenige Monate nach der Maueröffnung wechselte Kirsten, dessen großes Kindheitsidol Gerd Müller war, zu Bayer Leverkusen. Vorreiter war dabei sein Sturmpartner Andreas Thom, der als Erster schon 1989 den Sprung vom Osten in den Westen wagte. Insgesamt verließen zwischen 1989 und 1991 mehr als 20 Spieler den Osten, um sich einem Bundesligisten anzuschließen. Darunter spätere Stars wie Thomas Doll, Matthias Sammer, Steffen Freund - und eben das Leverkusener Sturmduo mit Kirsten und Thom.

"Die Erfahrungen, die ich machen durfte, haben wenige gemacht, sowohl auf dem sportlichen als auch dem persönlichen Lebensweg", so Sammer einst in einem dpa-Interview. Der gebürtige Dresdner wurde später drei Mal deutscher Meister, holte den Champions-League-Titel und triumphierte mit der DFB-Auswahl bei der UEFA EURO 1996.

"Der Gedanke, was wäre, wenn die Mauer nicht gefallen wäre, ist mir nicht fremd. Dass ich diesen Weg gehen konnte, auch privat, sehe ich mit Demut und voller Dankbarkeit. Es ist fast ein Gottesgeschenk", gesteht Sammer, der im Dezember 1990 beim 4:0-Erfolg gegen die Schweiz als erster Ostdeutscher das Trikot der DFB-Auswahl überstreifen durfte.

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Kroos und Brasilien: Ein Kreis schließt sich?

Insgesamt 37 Profis, die in Ostvereinen ihre ersten Schritte im Fussball vollzogen, liefen in den Jahren nach der Maueröffnung für das wiedervereinte Deutschland auf. Darunter auch ein aktueller Weltmeister: Toni Kroos. Er selbst misst der Tatsache, der Einzige aus dem WM-Kader in Brasilien zu sein, der in den neuen Bundesländern geboren wurde, keine große Bedeutung zu. Dieses Thema sei ihm nicht so nah, da er nicht so viel Kontakt zu der Zeit habe wie seine Eltern.

Die Mauer ist seit nunmehr 30 Jahren Geschichte. Die Mauer in den Köpfen der Menschen einzureißen, hat weitaus länger gedauert. Doch inzwischen ist zusammengewachsen, was zusammengehört. Das ist am Ende, was zählt.

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