Donnerstag 24 November 2016, 02:55

Die beiden Heimatländer des Fussballs

"An einem kalten Oktobernachmittag 1895 versammelte ich meine Freunde und lud sie ein, eine Partie football zu bestreiten. Selbst der Name war bereits eine Neuheit, wenn man bedenkt, dass man damals lediglich Cricket kannte", berichtete Charles William Miller 1952 in einem Interview mit der Zeitschrift "O Cruzeiro". Jener Satz mag an vielen Orten der Welt völlig normal erscheinen, wo man auf Rasenplätzen für gewöhnlich Menschen mit Schlägern und anderem Zubehör antrifft. In diesem Fall hat sich oben genannter Herr allerdings auf São Paulo bezogen, die größte Stadt Brasiliens. Stimmt genau. Brasilien, das Land des... Cricket?

Zumindest war dieser Eindruck Ende des 19. Jahrhunderts nicht falsch. Doch jener Mann aus São Paulo, der am 24. November 1874 geboren wurde, mit englischen und schottischen Vorfahren trug seinen Teil dazu bei, den Lauf der Geschichte entscheidend zu verändern. Man kann ihn als den großen Pionier jener Sportart bezeichnen, die sich für die südamerikanische Nation praktisch zu einer Religion entwickeln sollte.

Vor über hundert Jahren war auch in Brasilien die geläufigste Bezeichnung für die Sportart das englische Wort football. Doch dies blieb nicht allzu lange so. Genauso wie sie es mit der Ausübung der Sportart selbst taten, vereinnahmten die Brasilianer auch ihren Namen und verliehen ihm einen portugiesischen Hauch. Es entstand also der futebol – so wie auch die anderen aus dem Englischen abgeleiteten Begriffe wie chutar (von shoot), driblar (dribble) sowie natürlich der craque (crack).

Und mit eben solchen Cracks wie Pelé, Garrincha, Tostão oder Ronaldo in ihren Reihen bestritt die brasilianische Seleção gegen das English Team bis heute vier denkwürdige Klassiker bei FIFA Fussball-Weltmeisterschaften: 1958, 1962, 1970 und 2002 – alles WM-Turniere, aus denen die Brasilianer am Ende als Weltmeister hervorgingen. Nach einem torlosen Remis im ersten Aufeinandertreffen konnte Brasilien die folgenden drei Begegnungen gewinnen. Der Blick in die Geschichte rechtfertigt daher durchaus den Beinamen "Land des Fussballs".

Der erste Anpfiff Mit ihren Einwanderern haben europäische Länder wie  Italien, Deutschland oder Spanien zum Aufstieg einer Großmacht im Fussball beigetragen. Doch all dies hätte keinen Sinn ergeben ohne England, die Wiege des modernen Spiels.

Charles Miller ist heute Namensgeber des Platzes in São Paulo, an dem sich das legendäre Estádio do Pacaembu befindet – ein Austragungsort der WM 1950. Seine erste flüchtige Begegnung mit dem Fussball hatte der junge Miller an der Banister Court School in Southampton. Diese war jedoch ausreichend, um bei seiner Rückkehr nach Brasilien etwas Extragepäck mitzunehmen. Er brachte zwei gebrauchte Bälle, eine Luftpumpe, ein Paar Fussballstiefel, zwei Trikotsätze sowie ein Buch mit den damaligen Regeln der Sportart mit nach Hause. Nach zahlreichen Gesprächen und mit viel Überzeugungskraft konnte er dann schließlich seine englisch-brasilianischen Freunde überreden. So organisierte Miller am 14. April 1895 jene Partie, die allgemein als das erste in Brasilien ausgetragene Fussballspiel gilt – auf einem Feld im Stadtviertel Brás in São Paulo.

Es gibt Historiker, die diese These anzweifeln. Sie verweisen auf mögliche frühere "Kicks" in Rio de Janeiro und Pará. Doch das in São Paulo veranstaltete match war zumindest in jedem Fall die erste organisiert veranstaltete Partie – mit einem Schiedsrichter und unter Einhaltung der Spielregeln. Auf der einen Seite standen Mitarbeiter der São Paulo Railway, unter ihnen auch Miller, und auf der anderen Männer von der Gas Company of São Paulo. Die Bahnarbeiter gewannen mit 4:2 und die Liebe der Brasilianer zum Fussball war geboren.

"Man gewöhnte sich allerdings nicht sehr schnell an die neue Sportart", schreibt der Historiker John Mills, Autor des Buches "Charles Miller: Der Vater des brasilianischen Fussballs". "Die Überraschung darüber, dass man hierzulande 1894 den Fussball noch nicht kannte, war durchaus begründet. Immerhin waren die Kontakte zwischen den beiden Ländern nicht derart rar gesät, dass man diesen Sport nicht kennen konnte, der in England bereits seit 1863 organisiert betrieben wurde und vielerorts in Europa für Begeisterung sorgte."

Die Wurzeln Im Laufe der Jahre gewann die neue Sportart aber immer mehr Anhänger in der Arbeiterklasse von São Paulo. Die Spiele wurden allenthalben in der Stadt ausgetragen, und es wurden diverse Vereine gegründet. Und just eine dieser Arbeitergruppen rief am 1. September 1910 den Sport Club Corinthians Paulista ins Leben. Der Titel war eine unmittelbare Reverenz an den Klub Corinthians Team aus London, das durch Brasilien tingelte und seine Gegner in Grund und Boden spielte. Am Tag zuvor hatten die Engländer beispielsweise 2:0 gegen die Associação Atlética das Palmeiras gewonnen (die im Übrigen rein gar nichts mit dem heutigen Klub Palmeiras zu tun hat). Interessant dabei: Auf der Tribüne saßen bei diesem Spiel Anselmo Corrêa, Antônio Pereira, Carlos Silva, Joaquim Ambrósio und Raphael Perrone – allesamt Gründer der brasilianischen Corinthians.

Das Corinthians Team war einer von zahlreichen britischen Klubs, die Brasilien Anfang des 20. Jahrhunderts besuchten. Unter ihnen war auch der FC Exeter City, der den Kontinent lange Zeit bereiste und schließlich 1914 in Rio de Janeiro eintraf. Zunächst spielten sie dort gegen eine Auswahl von Landsmännern. Danach schlugen sie eine Stadtauswahl von Rio mit 5:3. Die wichtigste Begegnung war aber für den 21. Juli im Stadion von Fluminense vorgesehen, das von 5.000 Zuschauern gefüllt wurde. Doch diesmal verloren die Engländer völlig überraschend mit 0:2. Wer der Gegner war? Niemand geringeres als jenes Team, das vom brasilianischen Fussballverband CBF als die erste zusammengestellte Nationalmannschaft Brasiliens bezeichnet wird.

"Die englischen Spieler waren es gewohnt, professionell zu spielen. Sie gingen ihre Partien mit einer größeren Entschlossenheit an. Die Brasilianer dagegen, die noch Amateurspieler waren, wollten eher Spaß haben und zaubern", erklären die Autoren Antonio Carlos Napoleão und Roberto Assad im offiziellen Buch des brasilianischen Nationalteams. "Und das Talent der Brasilianer hat die Gegner überrascht."

Do you speak English? Ein Jahr vor dem Gastspiel von Exeter City hatte sich der in Liverpool geborene Engländer Henry Welfare in Rio niedergelassen. Ursprünglich war es sein Plan gewesen, Lehrer am Englisch-Brasilianischen Gymnasium zu werden. Doch sein Weg führte rasch zu Fluminense, wo er Mittelstürmer wurde. Mit seiner Größe von 1,90 Meter verfügte er über eine beeindruckende Physis – und bekam den offensichtlichen Spitznamen "Panzer der Tricolor" verpasst. Der Hüne erzielte Tore am laufenden Band für Flu. Bis heute hält er den klubinternen Rekord der meisten Treffer in einem einzigen Spiel – nämlich sechs Tore gegen den AC Bangu im Jahr 1917. Er gewann drei Mal die Regionalmeisterschaft von Rio de Janeiro, war bester Torjäger des Wettbewerbs und wurde aufgrund seiner Verdienste zum Ehrenmitglied des Klubs ernannt.

Nachdem er seine Fussballstiefel an den Nagel gehängt hatte, wurde er allerdings Trainer beim Lokalrivalen Vasco da Gama, was vielen Anhängern einen Schock versetzte. "Am Anfang hat das für viel Aufsehen gesorgt, dass er von Fluminense zu Vasco gegangen ist. In der damaligen Zeit war es sehr problematisch, den Verein zu wechseln. So etwas hat man einfach nicht gemacht, weil es unschön war", erklärt Flávio Costa, der ebenfalls Trainer bei Vasco da Gama und der brasilianischen Seleção von 1950 war.

Fakt ist jedenfalls, dass Henry Welfare auch bei Vasco Geschichte schrieb. Zehn Jahre lang betreute er das Team mit Stars wie Leônidas da Silva, Fausto und Domingos da Guia. Der Klub gewann währenddessen drei Meistertitel und blieb in acht Jahren immer unter den drei Bestplatzierten. Dies ist jedoch ein äußerst seltenes Beispiel für einen britischen Sportler, der in brasilianischen Gefilden Karriere macht. Gleichermaßen lange hat es gedauert, bis sich brasilianische Spieler im englischen Fussball behaupten konnten.

Yes, I do In diesem Punkt stellt der Stürmer Mirandinha einen interessanten Gegenpart dar. Dieser war allerdings 20 cm kleiner und folgte erst 72 Jahre später auf Welfare. Nachdem er mit der Seleção beim Stanley Rous Cup geglänzt hatte, erhielt er ein Angebot von Newcastle United. "Sie haben Palmeiras ein Angebot unterbreitet. Ich war kurz davor, bei CF America in Mexiko zu unterschreiben. Doch Newcastle ließ nicht locker und nahm mich unter Vertrag", berichtet er im Gespräch mit FIFA.com.

Mirandinha unterschrieb im Jahr 1987 und spielte zwei Saisons im Norden Englands. Das war ausreichend, um sich bei den Magpies unsterblich zu machen. "Damals spielten die meisten englischen Klubs noch das Kick and Rush. Doch zu meinem Glück war Newcastle nicht ganz so "englisch". Man spielte nicht so viele hohe Bälle. Das kam mir entgegen", so Mirandinha. "Ich liebe den Klub und die Stadt, wo ich noch viele Freunde habe. Bis heute werde ich sehr gut behandelt und sehr herzlich empfangen. Es ist etwas Besonderes."

Im darauf folgenden Jahrzehnt war ein weiterer Brasilianer an der Reihe, der Premier League seinen Stempel aufzudrücken. Dabei handelte es sich um einen noch kleineren Spieler als Mirandinha: Es war Juninho Paulista mit einer Körpergröße von nur 1,65 Meter, aber dafür umso mehr Gefühl im Fuß. Beim FC Middlesbrough konnte er den technischen und taktischen Umbruch in der englischen Liga aus nächster Nähe mitverfolgen. "Ich bin nur in den englischen Fussball gewechselt, weil Bryan Robson das Ziel hatte, mehr Spielkultur einzuführen", erinnert er sich gegenüber FIFA.com. "Während der Verhandlungen schickte man mir Zusammenschnitte von den Spielen des Teams. Ich sah sie mir an und dachte nur, dass ich da nie spielen könnte. Es gab nur lange Bälle von der einen zur anderen Seite. Da hat Robson zu mir gesagt: 'Du hast das Video also gesehen? Genau das ist der Grund, warum ich dich haben möchte – um das zu ändern.' Sie wollten technisch versiertere Spieler, sie wollten den Ball flach halten."

Auch Juninho schlossen die Anhänger ins Herz. Und zwar so sehr, dass er lachen musste, als er 2013 in einem Interview gefragt wurde, ob er denn in Middlesbrough oder in Itu bekannter sei. "Nun, ich glaube in England", antwortete er. Heute, da sein Jugendverein FC Ituano die Regionalmeisterschaft von São Paulo mit einem Finalsieg über den FC Santos erringen konnte, würde seine Antwort vielleicht anders ausfallen. Doch die Herzlichkeit, mit der er bei jedem Besuch im Nordosten Englands empfangen wird, bleibt immer bestehen.

Heute spielen mehrere Brasilianer auf der Insel. "Sie haben das Glück, eine andere, eine einfachere Spielweise vorzufinden als ich damals. Heute gibt es ausschließlich hochkarätige Spieler aus aller Welt, die auf optimalen Rasenplätzen spielen. Die englische Fussballkultur ist heute vollkommen anders", so Mirandinha.

Sie ist dermaßen anders, dass sie sogar jemanden wie Lucas Leiva vor eine Herausforderung stellen kann. Er stieß 2007 zum FC Liverpool, nachdem er zum besten defensiven Mittelfeldspieler der brasilianischen Meisterschaft gewählt wurde. Doch dies verhinderte nicht, dass er sich einer neuen Realität gegenüber sah, die ihn stark beeindruckte. "Ich hatte das Gefühl, ich laufe mit 50 km/h und alle anderen mit 100 km/h. Darauf war ich nicht vorbereitet. Das ging so weit, dass ich mich in den Partien der Champions League besser zurechtfand. Es war ein Wechsel der Extreme, was die Geschwindigkeit des Spiels angeht."

Vor über einem Jahrhundert hieß Brasilien das englische Spiel willkommen und drückte ihm seinen eigenen Stempel auf. Heute fügen sich die Brasilianer in das Beste ein, was England aufzubieten hat. Auf diese Weise geht die Entwicklung der Sportart stetig weiter – gleichgültig in welchem Land man sich befindet. Hauptsache es ist ein Land des Fussballs.