Dienstag 11 Oktober 2016, 12:23

Coutinho schließt die Lücke in der "Seleção"

"Zagallo ist damals mit sechs Zehnern nach Mexiko gefahren. In meiner Ära hatte die Seleção auf dieser Position immer mindestens drei, vier Optionen. Dahinter kamen Djalminha, Rivaldo, Juninho , Denilson. Später dann Ronaldinho und Kaká. Die Konkurrenz um die Camisa 10 in der Seleção war immer sehr intensiv. Aber jetzt gibt es niemanden."

Diese Äußerungen stammen von Zico, der sich dabei allerdings nicht auf das eigentliche Trikot mit der Nummer 10 bezog, das bei Neymar in besten Händen ist. Der Begriff Camisa 10 steht in Brasilien für den Mittelfeldregisseur und Spielmacher, der die Situation den entscheidenden Sekundenbruchteil früher erfasst, der mit perfekter Ballkontrolle und ebenso perfekten Pässen glänzt, der gegnerische Störmanöver überwindet und auch immer wieder einmal ein Tor beisteuert. Geht man allerdings nach der Partie am Freitagabend in der Arena das Dunas im Bundesstaat Natal, dann könnte es jetzt wieder einen Spieler geben, der diese Position beansprucht.

Obgleich die Seleção aus den letzten beiden Partien die vollen sechs Punkte geholt hatte, hielt sich Nationaltrainer Tite für die Reise nach Bolivien im Rahmen der Qualifikation für die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Russland 2018™ nicht an die goldene Regel, ein siegreiches Team nicht zu verändern. Oder jedenfalls nicht ganz. Im vergangenen Monat wirkte Brasilien in der Partie in Ecuador lustlos und wenig überzeugend. Tore waren noch nicht gefallen, als der Trainer Philippe Coutinho von der Bank holte und aufs Feld schickte. Eine halbe Stunde später hatte "der Magier" den Brasilianern zum ersten Auswärtssieg in Ecuador seit 33 Jahren verholfen und dabei nicht weniger als drei Tore vorbereitet. Wenige Tage später kam er in der 66. Minute aufs Feld, als es zwischen Brasilien und Kolumbien 1:1 stand. Nach wenigen Minuten legte er Neymar den Siegtreffer auf.

Statt Willian hieß es nun also Coutinho in der Startaufstellung. "Er trägt nicht umsonst den Spitznamen 'Mago' (Zauberer)", erklärte Tite.

Auch in Natal zeigte Coutinho seine geradezu magischen Fähigkeiten. Er tunnelte Jhasmani Campos; er tanzte Marvin Bejarano aus; er spielte einen Zuckerpass auf Gabriel Jesus, der sich mit einem Tor bedankte; er riss die bolivianische Abwehrreihe mit perfekten Pässen auf und erzielte persönlich das zweite Tor, bevor er die Vorlage zum fünften spielte. Zudem tat er allerdings auch Dinge, die keiner der großen brasilianischen Spielmacher der Vergangenheit tat: er gewann Zweikämpfe, blockte den Ball, setzte die Gegenspieler unter Druck und eilte fast 50 Meter zurück, um einem Bolivianer den Ball kurz vor dem Torschuss noch vom Fuß zu spitzeln. Seine in England erlernten Qualitäten kann und will ein Cutinho eben nicht einfach so ablegen.

"Ich freue mich sehr über diese Chance", so der 24-Jährige. "Die Seleção hat unter Tites Führung wieder einmal sehr guten Fussball gespielt. Er wiederholt immer wieder, dass jeder Spieler sich seine Nominierung verdienen muss. Das motiviert uns alle stets aufs Neue."

Die Sperre, die sich Neymar durch seine gelbe Karte in der Partie gegen Bolivien einfing, hat gleich dreifache Auswirkungen auf Coutinho. Zunächst einmal wird in der Partie in Venezuela am Dienstag noch größerer Druck auf seinen Schultern lasten. "Dass Neymar fehlt, ist ein schwerer Verlust. Er ist ein Spieler, der den Sieg bringen kann", so der Mann, der in Liverpool einen herausragenden Saisonstart hingelegt hat. "Es liegt jetzt an uns allen, gemeinsam die nötige Kreativität aufzubringen."

Zum zweiten wird Coutinho auf die linke offensive Mittelfeldposition rücken: "Ich spiele auch bei meinem Klub auf der linken Seite. An diese Position bin ich also gewöhnt. Hier fühle ich mich am wohlsten."

Und zum dritten schließlich rückt der Mann, dessen Position Coutinho übernahm, wieder in die Startaufstellung,  nämlich Willian. "Wir stehen in Konkurrenz um einen Platz im Team, aber das ist eine gute Sache", so Coutinho. "Wir haben nicht viele Worte darüber verloren. Nach meinem Tor gegen Bolivien war Willian der erste, der bei mir war und mit mir gejubelt hat. Dies zeigt, wie wichtig unsere Freundschaft ist. Der Kader ist geeint. Es ist ein großes Privileg, zu diesem Kader zu gehören und neben Spielern wie Willian zu spielen."

Philippe Coutinho gilt schon länger als möglicher Nachfolger von Akteuren wie Rivelino, Zico, Rivaldo und Co. Seine erste Berufung in eine Brasilien-Auswahl erhielt er schon mit 13 Jahren. Bei der FIFA U-17-Weltmeisterschaft 2009 spielte er an der Seite der heutigen A-Nationalspieler Alisson, Casemiro und Neymar (Coutinho trug die 10; Neymar die 11). Zwei Jahre später gehörte er neben Akteuren wie Danilo, Alex Sandro und Oscar zur U-20-Auswahl. Es mag etwas länger gedauert haben, als viele erwartet hatten, doch nun zeigt der ehemalige Akteur von Vasco da Gama und Inter Mailand mit seinen aktuellen Leistungen für Liverpool und Brasilien, dass er bereit ist, sein Potenzial auch auf höchstem Niveau auszuschöpfen.

Die Brasilianer sind von der Camisa 10-Rolle regelrecht betört. Erleben wir also gerade den Auftakt einer langen Liebesgeschichte zwischen den überaus anspruchsvollen brasilianischen Fussballfans und dem leichtfüßigen Carioca? Die Zeit wird es zeigen.