Dienstag 21 Februar 2017, 11:13

Chanot: Vom Nebendarsteller zum Helden

Es gibt Menschen, die gleich die Überholspur nehmen: Vielversprechende Anfänge, Durchbruch auf höchstem Niveau und ein Stammplatz unter den Stars. Aber nicht jeder hat das Glück, Pelé, Lionel Messi oder Wayne Rooney zu heißen, bereits in jüngstem Alter in einer großen Mannschaft zu spielen und nie wieder woanders als ganz vorne auf der Bühne zu stehen. Zu diesen "anderen", weniger glücklichen, gehört auch ein gewisser Maxime Chanot. Noch bis vor wenigen Monaten hatte er mit Stars rein gar nichts zu tun. Seit letztem Juli aber teilt er seinen Alltag mit Patrick Vieira, David Villa oder Andrea Pirlo.

Ein Luxemburger inmitten von Weltmeistern - das kann doch nur eine Fehlbesetzung sein? "Ich lerne jeden Tag von diesen Spielern und diesem Trainer, die eine außergewöhnliche Karriere haben", sagt Chanot im Gespräch mit FIFA.com genüsslich. Er kann sein Glück kaum fassen, täglich mit diesem französischen Übungsleiter und den berühmten spanischen und italienischen Teamkameraden zu tun zu haben, seit er bei New York City FC unter Vertrag steht. "Besonders hat mich beeindruckt, wie hart sie arbeiten. Sie sind als erste beim Training und gehen fast immer als letzte. Trotz ihres Talents zeigen sie, dass man es ohne harte Arbeit nicht schafft. Wenn man Spitzenniveau erreichen will, muss man beides kombinieren. Diese Spieler sind perfekte Beispiele dafür. Heute lebe ich, wovon ich immer geträumt habe. Und dies alles, weil ich als Kind angefangen habe, Fussball zu spielen."

Dabei enthielt das Drehbuch, das heute märchenhafte Züge angenommen hat, in dieser Kindheit noch nicht viele Hinweise darauf, dass es zu einem Happy End führen würde. Im Alter von fünf Jahren verlor Chanot seinen Vater. Der junge Mann ließ später zudem einen wilden Charakter erkennen, der ihm in den Ausbildungszentren von Nancy und später Reims so manche disziplinarische Probleme einhandelte. "Meine Karriere verlief ein wenig untypisch. Der Start war schwierig und es hat gedauert, bis ich eine Umgebung gefunden hatte, um Fahrt aufzunehmen.  Doch heute habe ich zu Konstanz gefunden, und nur das ist wichtig", berichtet der Spieler, der 2007 bei Sheffield Wednesday seinen ersten Profivertrag unterschrieb. Jedoch nur, um kurz darauf festzustellen, dass er vielleicht die falsche Rolle angenommen hatte.

Fehlbesetzung Es folgen zwei unstete Spielzeiten bei den Blades, unterbrochen durch zwei Aufenthalte auf Leihbasis bei Mansfield Town und Hamilton Academical. Nach insgesamt nur 18 Pflichtspielen fiel die Schlussklappe. Chanot kehrte nach Frankreich zurück und musste sich in Le Mans und Gueugnon mit Nebenrollen begnügen. Zu den sportlichen Problemen gesellten sich die des wahren Lebens: unbezahlte Gehälter, prekäre Situation. Er sah sich gezwungen, seine Wohnung zu vermieten und ins Ausbildungszentrum zurückzuziehen, um einige Euro zu sparen. "Man muss ehrlich sein. Wenn ich wirklich das Niveau gehabt hätte, hätte ich den Durchbruch geschafft und vielleicht in England Karriere gemacht", räumt der 27-jährige Verteidiger ein. "Aber ich war jung, und als Innenverteidiger in England muss man viel Erfahrung haben. Außerdem traf ich schlechte Entscheidungen. Meine Rückkehr nach Frankreich war ein Fehler. Ich hätte geduldig sein müssen, und deshalb habe ich es in den folgenden Jahren so schwer gehabt. Das hat meiner Karriere geschadet, bis es mir gelungen ist, einen Ausweg zu finden."

Die großen Rollenangebote blieben zwar aus, aber Chanot war sich nicht zu schade, auch Produktionen mit kleinem Budget zu akzeptieren. White Star Brüssel bot ihm eine solche Chance in der zweiten belgischen Liga. Chanot fasste frischen Mut und entwickelte neuen Ehrgeiz. In der Folge wurde er von den Erstligisten Beerschot und Courtrai verpflichtet und avancierte gar zu einem der besten Verteidiger des Landes. 2013 wird er in die luxemburgische Nationalmannschaft berufen. "Ich hatte verstanden, dass eine Karriere als Fussballer schwer ist. Ab dem Moment, in dem man akzeptiert, dass es Höhen und Tiefen gibt, weiß man, dass man in den schweren Momenten nicht nachlassen darf und sich die Arbeit irgendwann auszahlen wird", sagt Chanot heute. Inzwischen gehört er zur Stammformation der Roten Löwen und wurde von Patrick Vieira persönlich rekrutiert, der von den Leistungen in seinen fünf Spielzeiten in Belgien angetan war.

Einerseits mag Chanot vielleicht noch keine Hauptrolle in einem Blockbuster ergattert haben: "Ich will noch mehr erreichen, ich bin erst 27 und habe noch einige gute Jahre vor mir", schätzt er. Andererseits eröffnet sich ihm heute die Gelegenheit, mit der Crème de la Crème des weltweiten Fussballs zu verkehren. Sein Treffer gegen Gianluigi Buffon zu einem historischen Unentschieden gegen Italien (1:1) und ein weiteres Tor gegen die Niederlande (1:3) in der Qualifikation zur FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 2018™ katapultieren ihn ins Scheinwerferlicht. Im Kielwasser dieser Leistungen machte die gesamte Nationalelf einen Schritt nach vorne.

Es ist keine Selbstverständlichkeit mehr, dass es eine hohe Niederlage setzt. Aber noch wichtiger ist, dass sich das Team des Großherzogtums auch spielerisch verbessert hat. Vorbei sind die Zeiten, als der Mannschaftsbus vor dem Tor geparkt wurde. Die Luxemburger haben am Ball inzwischen ganz andere Dinge drauf als ihn möglichst weit weg zu schlagen. "Die Menschen, die uns vor vier oder fünf Jahren spielen gesehen haben, wären überrascht. Wir verstecken uns nicht mehr, wir bleiben nicht mehr alle zehn in der eigenen Hälfte", versichert Chanot, der in Frankreich geboren wurde, sich aber dafür entschied, die Nationalfarben seiner Familie mütterlicherseits zu vertreten. Nun wird er am 25. März sein Geburtsland herausfordern. "Sicher, wir bleiben Luxemburg und wissen, dass wir in den Spielen leiden werden. Doch wir haben eine ganz andere Herangehensweise als noch vor einigen Jahren."

Ganz oben auf der Besetzungsliste Tatsächlich hat sich die Situation in den Spielen grundlegend geändert. Nun fehlt nur, diesen Fortschritt in Eintrittskarten für die großen Wettbewerbe umzumünzen - oder diesem Ziel wenigstens näherzukommen. "Es ist schade, dass sich unsere Leistungen nicht in den Ergebnissen wiederspiegeln. In der Tabelle haben wir nur einen Punkt und die Menschen, die unsere Spiele nicht sehen, werden denken, dass Luxemburg die kleine Mannschaft geblieben ist. Wir verdienen es nicht, nur auf diese Punktzahl reduziert zu werden", bedauert der 22-fache Nationalspieler nach einigen knapp verlorenen Begegnungen wie gegen Bulgarien (3:4) oder Schweden (0:1). "Was uns fehlt, ist ein wenig mehr Erfahrung und dass die Spieler lernen, mit den starken und schwachen Phasen besser hauszuhalten. Das fällt uns noch schwer. Und vor allem fehlt uns eine Perle - dieser Spieler, der den Unterschied macht und in den wichtigen Momenten trifft. Der das Siegtor erzielt, wenn es 3:3 oder 0:0 steht. Aber vielleicht kommt das mit der Zeit. Wir haben gute junge Spieler, die nach oben drängen."

Es wird wohl noch ein wenig dauern, bis Luxemburg in vorderster Reihe steht. Aber Chanot weiß besser als jeder andere, dass selbst jene, denen es am Anfang schlechter ergangen ist, zusammen mit den Größten auf der Besetzungsliste stehen können, sofern man nur beharrlich bleibt. "Der Fussball ist ein Sport, der Geduld erfordert. Das wird von Teilen der Fans und der Außenstehenden manchmal nicht richtig verstanden. Wir bleiben ein kleines Land, das im Vergleich zu den großen Nationen sehr viel weniger Spieler hat, die von Natur aus begabt sind. Es wäre vermessen zu sagen, dass wir uns qualifizieren können. Aber warum sollten wir nicht damit anfangen, bessere Qualifikationskampagnen mit mehr Punkten zu erreichen? Das wäre ein guter Anfang, um zu beweisen, dass der Abstand zu den guten Mannschaften kleiner geworden ist."

Der Beweis: Wer hätte gedacht, dass sich der luxemburgische Nebendarsteller eines Tages mit Stars eine Kabine teilt, die einst eine WM-Hauptrolle gespielt haben? "Wenn man Saures gekostet hat, weiß man Süßes besser zu schätzen! Ich bin froh, dass ich die harten Zeiten kennengelernt habe. Denn ich habe das Gefühl, dass ich das, was ich heute erlebe und was ich geleistet habe, um es zu erreichen, umso mehr genießen kann", fasst Chanot zusammen. "Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe, auch wenn ich glaube, dass noch Verbesserungspotenzial vorhanden ist. Im Fussball will man immer die nächsthöhere Stufe kennenlernen. Aber mein Leben und meine Karriere haben mich gelehrt, im Drehbuch nichts vorwegzunehmen."