Mittwoch 22 Juni 2016, 12:32

Hodge, die "Hand Gottes" und Maradonas Trikot

Als Steve Hodge am Sonntag, 22. Juni 1986 morgens aufwachte, hatte er noch keine Ahnung, was der Tag bringen würde. Noch vor Sonnenuntergang sollte er eine wichtige Rolle in einem der berühmtesten und berüchtigsten FIFA WM-Spiele aller Zeiten gespielt haben und zudem über ein einzigartiges Erinnerungsstück verfügen…

An diesem Tag traf Hodge im Viertelfinale der Weltmeisterschaft mit der englischen auf die argentinische Nationalmannschaft. Wegen des Falklandkrieges wenige Jahre zuvor handelte es sich um eine äußerst brisante Partie. Man erwartete zudem, dass Argentiniens Kapitän und Ausnahmefussballer Diego Maradona eine entscheidende Rolle spielen würde.

"An den Vormittag kann ich mich kaum erinnern", erzählte Hodge im Exklusiv-Interview mit FIFA.com. "Wir frühstückten wohl etwas früher als sonst. Bis zum Stadion war es eine Stunde Fahrt. Als wir ankamen, ging ich zunächst auf das Spielfeld und sinnierte ein wenig darüber, was für ein außergewöhnliches Glück ich doch hatte, hier als Spieler dabei zu sein."

"Dann ging es zum Umkleiden in die Kabine. Im Hintergrund hörte man den Lärm der Zuschauer, die das Stadion füllten. Die Tröten hörten sich ein bisschen an wie Sirenen. Ich erinnere mich, dass ich allein in einen anderen Raum ging und immer wieder einen Ball gegen die Wand geschossen habe, um den Kopf frei zu bekommen. Alle Spieler machten irgendetwas gegen die Nervosität. Man brauchte niemandem zu sagen, wie wichtig das Spiel war, das war jedem klar."

Englands Trainer Bobby Robson hatte den Schwerpunkt der Vorbereitungen nicht auf Maradona gelegt, sondern auf das Team der Three Lions selbst. Die Engländer hatten bis dahin erst ein einziges Gegentor zugelassen und gegen Polen und Paraguay zwei 3:0-Siege in Folge gefeiert. Entsprechend selbstbewusst ging das Team ins Viertelfinale. Hodge allerdings war vorsichtig, hatte er doch zwei Jahre zuvor mit Nottingham Forest gegen den Pibe de Oro gespielt.

"In unserer Planung ging es nur um uns selbst", so Hodge. "Uns allen war klar, dass wir uns gegen Maradona aushelfen und ihn stets mindestens doppeln mussten. Ich hatte bei Nottingham Forest erlebt, wie er immer wieder selbst gestandene Verteidiger einfach stehen ließ, so dass sie ziemlich übertölpelt aussahen. Daher war mir klar, dass er ein absoluter Ausnahmefussballer war, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Er war erschreckend schnell, hatte eine blitzschnelle Auffassungsgabe, war technisch stark und spielte aggressiv. Er machte manche Dinge erst möglich."

Hodge und die 'Hand Gottes' Und an diesem schicksalhaften Sonntag machte El Diego in der Tat einige außergewöhnliche Dinge möglich. Die erste Halbzeit im glühend heißen Aztekenstadion verlief torlos. Sechs Minuten nach Wiederbeginn ging Argentinien dann in Führung – allerdings dank einer der unverschämtesten Aktionen in der Geschichte des Turniers. Hodge war unmittelbar daran beteiligt.

"Maradona lief mit dem Ball auf unseren Strafraum zu und spielte dann auf Jorge Valdano. Er lief weiter in unseren Strafraum und hoffte auf einen Doppelpass", erinnert sich Hodge, der die Szene völlig klar vor seinem geistigen Auge sieht. "Maradona lief weiter in Richtung Torwart. Der Ball war links von Valdano zu mir gekommen."

Hodge hatte allerdings während der Partie den Lauf von Maradona nicht gesehen und versuchte einen Rückpass zu Torhüter Peter Shilton, wie es vor dem Verbot solcher Rückpässe 1992 häufig zu sehen war.

"Valdano behinderte mich ein wenig, aber der Ball kam genau richtig auf und ich konnte ihn mit meinem starken linken Fuß nehmen. Ich traf ihn perfekt. Genau so hatte ich ihn treffen wollen, um ihn in einem Bogen zum Torhüter zu schießen. Ich dachte in diesem Moment nicht, dass sich daraus ein Problem ergeben könnte, denn ich hatte keine Ahnung, wo Maradona war. Sieht man sich die Szene heute an, wirkt dieser Rückpass absolut verrückt, aber damals konnte man so etwas ständig sehen."

Es folgte eine unvergessliche Szene. Irgendwie zappelte der Ball kurz nach dem Rückpass von Hodge im englischen Netz.

"Als der Ball im Netz war, dachte ich: 'Oh mein Gott, was hab ich gemacht?' Mein Rückpass – und eine Sekunde später war der Ball im Netz. Ich sah nur einen schwarzen Lockenkopf, einen Zusammenprall… und dann war der Ball drin. Hände wurden in die Höhe gereckt. Irgendwie sah es falsch aus. Fünf Sekunden später war Maradona schon an der Eckfahne und jubelte. Da war klar, dass das Tor anerkannt wurde. Und dann mussten wir weiterspielen."

Das 'Tor des Jahrhunderts' Wenig später folgte eine ganz andere Aktion, mit der Maradona seinen Status als Fussballgottheit zementierte. Hodge befand sich in der Nähe, als der Argentinier seinen unvergesslichen Alleingang begann, den er mit dem Treffer zum 2:0 abschloss.

"Ich erinnere mich noch, dass ich dachte: Wir haben Butcher, Fenwick und Gary Stevens, die absichern, und außerdem haben wir den besten Torhüter der Welt , und das alles auf einem etwas holprigen Platz. Es sind weit über 50 Meter bis zum Tor.  Eigentlich kann nichts passieren."

"Und als der Ball dann im Tor gelandet war, dachte ich nur: 'Wow, das war unglaublich!' Wenn man als Fussballer so etwas sieht dann denkt man: 'Er muss von einem anderen Stern sein.' "

Gary Lineker schaffte zwar später noch den Anschlusstreffer für England aber es half nichts mehr. Maradona und Argentinien setzten sich durch und feierten ihren Erfolg frenetisch. Hodge und die Engländer trotteten unterdessen enttäuscht vom Feld.

"Ich dachte, das war's für uns. Vielleicht kann ich noch ein Trikot als Andenken bekommen", so Hodge. "Ich schüttelte Maradona die Hand, aber er war von seinen Teamkameraden umringt. Da dachte ich mir: Das bringt nichts, lass es einfach."

Besonderes Andenken Hodge gab noch ein Interview, während seine Teamkameraden schon in die Kabine strömten. Eine Wiederholung des umstrittenen ersten Tores hatte er noch nicht gesehen.

"Nach dem Interview ging ich hinter dem Tor vorbei in Richtung Kabine", so Hodge weiter. "Auf dem Weg traf ich Maradona mit zwei Teamkameraden. Ich schaute ihn an und zog demonstrativ an meinem Trikot, als Aufforderung zum Trikottausch. Er kam zu mir rüber, murmelte noch schnell ein Gebet und dann haben wir die Trikots getauscht. Das war's. So einfach war das. Überhaupt nichts Besonderes", so Hodge mit einem Grinsen. "Es war einfach ein kurzes Zusammentreffen ein paar Meter vor den Kabinen. Ich ging in unsere Kabine, er in seine, und ich stopfte das Trikot in meine Tasche."

Natürlich diskutierten Hodges Teamkameraden intensiv über das erste Tor und es wurde immer klarer, dass es dabei einen Regelverstoß gegeben hatte.

"Wenn ich das gewusst hätte, dann hätte ich nicht mit ihm das Trikot getauscht", so Hodge. "Ich wäre wohl sehr verärgert gewesen, weil es ja ein offensichtlicher Betrug war. Es war falsch, was er gemacht hat. Er hätte es zumindest nach dem Spiel zugeben können. Man kann niemandem einen Vorwurf machen. Was geschehen war, ließ sich nicht rückgängig machen. Ich dachte nur:  Wir sind draußen, also ab nach Hause. Man kann darüber lamentieren, bis man schwarz wird – es spielt keine Rolle."

Maradonas Trikot ist seit 2002 im Nationalen Fussballmuseum in England ausgestellt. Hodge und Maradona, durch die 'Hand Gottes' und den anschließenden Trikottausch auf immer miteinander verbunden, begegneten sich nach diesem Nachmittag in Mexiko-Stadt nur noch ein einziges Mal.

"Ich war 1987 zusammen mit Ossie Ardiles, einem Teamkameraden bei Tottenham Hotspur, bei einem Länderspiel zwischen England und Brasilien im Wembley-Stadion", erzählt Hodge. "Wir haben Maradona ganz kurz in der Bar getroffen und ein paar Minuten über England und Brasilien gesprochen. Ich weiß nicht mehr, ob es in der Pause oder nach dem Spiel war. Wir haben über das aktuelle Spiel gesprochen. Die Partie von 1986 wurde nicht erwähnt. Was hätte ich sagen sollen? Ich konnte ihm ja schlecht sagen: 'Du hast uns betrogen!' Was hätte das gebracht?"

"In einem Spiel von 90 Minuten Dauer in aufgeheizter, emotionaler Atmosphäre machen manche Spieler eben Dinge, die sie nicht machen sollten", so Hodge zum Abschluss des Gesprächs. "Er ist damit durchgekommen. Ich habe es vor 30 Jahren so empfunden, und ich empfinde es heute noch genau so."