Freitag 25 Mai 2018, 11:26

Caniggia: "Die entscheidenden Spieler können jeden Gegner einschüchtern"

  • Der Sohn des Windes bestritt die Weltmeisterschaften 1990, 1994 und 2002

  • Der Teamkollege Maradonas berichtet, wie es ist, mit einem Supertalent auf dem Platz zu stehen

  • Russland 2018 wird seiner Meinung nach eine "schöne WM mit Offensivfussball"

– Die fünf Tore, die du in deinem Leben am meisten bejubelt hast?

In unzähligen argentinischen WhatsApp-Gruppen, deren Mitglieder über 35 Jahre alt sind, stellt früher oder später jemand diese Frage. Wenn der Erinnerungsmodus "schönster Fussballmoment" aktiviert ist, gibt es einen Treffer, der in keiner Antwort fehlt: "Der von Cani gegen Brasilien 1990 in Italien."

Mit diesen acht Worten wird zum Ausdruck gebracht, welche Bedeutung Claudio Caniggia für den argentinischen Fussball hat. Er spielte sowohl für River Plate als auch für die Boca Juniors, doch er gehört zu keinem Klub, sondern ist in erster Linie ein Aushängeschild der Nationalmannschaft.

Caniggia bestritt drei FIFA Fussball-Weltmeisterschaften™, stand gemeinsam mit Diego Maradona auf dem Platz und seine im Wind flatternde Mähne ist Kult beim wichtigsten Fussballturnier der Welt.

Heute, mit 51 Jahren, hat er noch dasselbe Gewicht und dieselbe Frisur wie zu seinen besten Zeiten als Flügelstürmer. Caniggia sprach mit FIFA.com über seine Erfahrungen auf der Weltbühne und Russland 2018.

Die nächste WM-Auflage steht vor der Tür. Wie haben Sie damals die letzten Wochen vor dem Turnier erlebt? Das ist etwas ganz Besonderes. Bei keiner anderen Veranstaltung gibt es ein vergleichbares Gefühl. Bei mir war das immer eine Mischung aus Aufgeregtheit und Gelassenheit. Der Druck hat mir nie etwas ausgemacht. Es gibt Spieler, die schlafen immer schlechter, je näher der WM-Start rückt, und dann fällt die Anspannung von ihnen ab. Es gibt auch welche, bei denen die Anspannung nie abfällt. Auch das hatten wir bereits. [lacht] Spieler, die unumstrittene Stammspieler waren und dann keine einzige Minute zum Einsatz gekommen sind. Die Nationalmannschaft ist immer etwas anderes, selbst wenn man mit seinem Klub schon viele große Turniere bestritten hat.

Bei vielen Ihrer Landsleute schien die WM eine Art unstillbaren Hunger auszulösen. Damals waren Fussballer viel wilder und hatten viel mehr Ausstrahlung. Ich glaube, dass das Publikum sich früher viel mehr mit den Spielern identifiziert hat als heute. Und ich spreche nicht nur von Argentinien. Das ist wahrscheinlich eine Generationsfrage. Wir haben wildere Situationen erlebt. Der Fussball war damals nicht so organisiert, aber wir haben uns perfekt mit der Unordnung arrangiert. Wir konnten mit jeder Situation umgehen. Es zählte nur das Nationalteam und die Tatsache, dass wir Millionen von Menschen repräsentiert haben.

Sie sind 1990 in Italien Vizeweltmeister geworden, aber die Welt hat das damalige Team bestenfalls als durchschnittlich in Erinnerung. Wie würden Sie diese Ansicht widerlegen? Niemand war uns wirklich überlegen. Nur Brasilien in den ersten 45 Minuten des Achtelfinales. Wir mussten mit vielen negativen Einflüssen fertig werden. Maradona, Ruggeri und Burruchaga waren verletzt angereist. Pumpido zog sich einen Bruch zu. Wir waren ein Weltmeister mit unendlich vielen Problemen! Einige hatten Trainingsrückstand, andere mussten sich fit spritzen, die Stammelf musste umgestellt werden ... Es war furchtbar! Welche Mannschaft muss bei einer WM schon all diese Dinge durchmachen? Und trotz alledem haben wir eine unglaubliche Reaktion gezeigt und hätten die Weltmeisterschaft fast gewonnen. Das ist für mich das Paradebeispiel für mentale Stärke und Kampf gegen widrige Umstände.

Ihr Tor gegen Brasilien hat bei der argentinischen Fangemeinde Kultstatus. Wie stehen Sie dazu? Das ist fantastisch. Es macht mich zufrieden und stolz. Ich persönlich finde auch das Tor im Halbfinale gegen Italien sehr wichtig, aber Brasilien ist natürlich unser traditioneller Rivale. Außerdem war es unglaublich, weil das Tor im Mittelfeld entstand, in dem fünf Brasilianer und zwei Argentinier anzutreffen waren. Das war ein spektakulärer Spielzug. Die Spieler sahen aus wie Figuren auf der PlayStation. Hinzu kommen der Mythos dieser Partie und die Ereignisse in der ersten Halbzeit. All dies machen das Tor unvergesslich.

Als Kind haben Sie an Leichtathletik-Wettbewerben teilgenommen. Inwiefern haben Ihnen die dort erlernten Techniken beim Fussball geholfen? Ich habe sie nicht bewusst eingesetzt, aber sie haben mir schon geholfen. Ich hatte eine seltsame Art zu laufen. Ich bin gebeugt und auf Zehenspitzen angelaufen, weil ich glaubte, dadurch einen schnelleren Antritt zu haben. Ich habe die Fußspitzen fest in den Rasen gedrückt. Das hatte ich beim 100- und 200-Meter-Lauf gelernt. Profitiert habe ich davon auch beim Abstoppen und bei Richtungswechseln.

Gibt es im heutigen Fussball einen Caniggia? Nein, weil immer weniger Spieler auf der Außenbahn spielen. Das sollten wir wieder ändern. Mit einem guten, schnellen Flügelstürmer hat man viele Möglichkeiten, dem Gegner Probleme zu bereiten. Für die Mitte gibt es viele Leute, aber das ist komplizierter.

Was erwarten Sie von der WM? Ich erwarte eine schöne WM mit Offensivfussball. Es sind gute Mannschaften dabei, die auf die Offensive setzen und auch über die erforderlichen Spieler verfügen. Wenn man ihnen sagt, sie sollen angreifen, dann tun sie es auch. Ab dem Achtelfinale wird es vielleicht mehr Kalkül geben. Das ist normal bei den Teams, die sich unterlegen fühlen.

Es herrscht Einigkeit über die Favoriten, aber sicher haben sie auch Schwachstellen, über die niemand spricht. Welche Achillesferse sehen Sie bei den favorisierten Teams? Diese Mannschaften sind sehr solide. Wir haben noch das eine oder andere Problem, aber niemand ist unbesiegbar. Ich weiß nicht, ob ich es Achillesferse nennen würde, aber es gibt immer eine Schwachstelle. Es werden Fehler gemacht. Gegen die Italiener hatte 1990 niemand ein Tor erzielt, und wir haben gegen sie gewonnen. Das Wichtige ist die mentale Stärke.

Welches sind die größten Stärken und Schwächen Argentiniens? Die größte Stärke ist, dass die entscheidenden Spieler jeden Gegner einschüchtern können. Sie haben Rang und Namen, und niemand fühlt sich gegen sie sicher. Die Gegner denken nicht etwa: 'Higuaín steht in Argentinien in der Kritik'. Sie denken: 'Higuaín ist der Torjäger von Juventus'. Unsere größte Schwäche ist, dass wir noch keine Stabilität in der Abwehr haben und dass einige Positionen noch nicht fest besetzt sind.

Die folgenden zwei Sätze spiegeln unterschiedliche Meinungen wider: "Messi ist nicht so heldenhaft wie Maradona" und "Messi hat von den Teamkameraden nicht so viel Unterstützung erfahren wie seinerzeit Maradona". Welchem Satz würden Sie eher zustimmen? Messi hat von den Teamkameraden nicht so viel Unterstützung erfahren wie seinerzeit Maradona. Ich glaube, das ist es.

Wie haben Sie sich vorbereitet, um ein Genie zu unterstützen und ihm gewachsen zu sein? Ich wusste, dass Maradona das totale Fussballgenie war, aber ich habe nicht darüber nachgedacht, ob ich ihm gewachsen sein würde. Nie. Jeder trägt Verantwortung, selbst wenn er nur wenig zum Einsatz kommt. Man kann nicht einfach Messi die gesamte Verantwortung aufhalsen. Wofür wären denn dann die anderen Spieler da? Wenn ich 1990 gedacht hätte, dass die Weltmeister mich mitreißen müssen, dann hätte das nicht funktioniert. Nein! Alle sind verantwortlich. Wenn ich der Stürmer der argentinischen Nationalmannschaft bin, dann muss auch ich meine Teamkameraden mitreißen. Das war meine Verantwortung. Man braucht Charakter, Entschlossenheit, Ehrgeiz und Unbekümmertheit.

Ende 2009 hat Carlos Bilardo Ihnen vorgeschlagen, in den Fussball zurückzukehren um die WM in Südafrika zu bestreiten. Glauben Sie, Sie hätten dort noch etwas bewegen können? Ich war 42 Jahre alt und hatte viereinhalb Jahre zuvor mit dem Fussballspielen aufgehört. Es ist natürlich nicht nachprüfbar, aber eine halbe Stunde hätte ich perfekt durchhalten können. Ich war gut trainiert und noch immer schnell. Aber ich konnte mich nicht entschließen und habe das später bereut. Es wäre fantastisch gewesen, noch eine WM zu bestreiten.