Montag 22 August 2016, 09:09

Cherchesov: Ruhe im Angesicht der historischen Aufgabe

Stanislav Cherchesov nimmt seinen geschichtsträchtigen Augenblick bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft USA 1994™ inzwischen mit Ironie. "Tja, da steckst du nicht drin! Da kassierst du ein Tor bei der WM und landest prompt in den Geschichtsbüchern, weil der älteste Spieler im Turnier gegen dich getroffen hat!"

Der neue Cheftrainer der russischen Nationalmannschaft blickt auf eine lange Torwartkarriere zurück und stand 1994 und 2002 im WM-Kader seines Landes. Dabei bestritt er zwar nur ein Spiel, doch das hatte es in sich.

Russlands 6:1-Kandersieg gegen Kamerun in der Gruppenphase 1994 in den USA bleibt vor allem wegen zweier Rekorde in Erinnerung: Oleg Salenkos fünf Tore in einem Spiel sind bis heute Bestmarke des Turniers, und der Ehrentreffer der Unzähmbaren Löwen kam just vom 42-jährigen Roger Milla, der damit zum ältesten WM-Torschützen aller Zeiten wurde. Cherchesov kann seine "Leistung" heute mit Humor nehmen.

"Wenn es ein Gegentor gibt, über das ich mich nicht ärgere, dann dieses", erklärt der vom Torhüter zum Nationaltrainer Avancierte bei FIFA.com. "Immerhin ist es in die Geschichte eingegangen. Und am Ergebnis hat es auch nichts geändert."

Tatsächlich war dieser Sieg die wahrscheinlich beste WM-Leistung Russlands in der postsowjetischen Zeit. "Wir hatten nichts zu verlieren und haben alles gegeben", bringt es Cherchesov auf den Punkt. "Damals hatten wir zwar eine ordentliche Mannschaft, aber dafür überhaupt kein Glück bei der Gruppenauslosung. In unserer Gruppe war sowohl der künftige Titelträger Brasilien als auch der künftige WM-Dritte Schweden. Ich bin bis heute überzeugt, dass wir die Vorrunde überstanden hätten, wäre nur eine einzige etwas schwächere Mannschaft in der Gruppe gewesen."

Doch die Hoffnung in Russland ist groß, dass sich die Magie jenes 6:1 im Stanford Stadium beim kommenden Turnier im eigenen Land wiederholen lässt. Entsprechend wurde Stanislav Cherchesov eine der höchsten Ehren in der Trainerwelt zuteil: die, eine Nationalmannschaft auf eine WM vor heimischem Publikum vorzubereiten.

"Meine ersten Erinnerungen an die Weltmeisterschaft datieren von 1982, bis heute meine Lieblings-WM. Ich erinnere mich noch an Brasiliens tollen Sieg im ersten Spiel gegen die Sowjetunion, als Dasayev eine fantastische Leistung ablieferte. Es ist toll, dass die WM nun nach Russland kommt. Die Augen der Welt werden auf unser Land gerichtet sein. Das Wichtigste aber ist, dass die gesamte Infrastruktur – Stadien, Flughäfen und alles andere – auch danach weiter genutzt werden."

Der neue russische Cheftrainer selbst ist auch angesichts der großen sportlichen Aufgabe nicht unnötig nervös. "Ob ich eine größere Verantwortungslast spüre? Wenn ich anfange, so zu denken, kommt ohnehin nichts Gutes dabei heraus. Ich bin von Beruf Trainer, und ich gehe diesen Trainerjob an, wie jeden anderen auch – ruhig und akribisch."

Prophetische Unterhaltung mit Kerzhakov Dabei war der Weg bis zum Posten des Nationaltrainers für den im nordossetischen Alagir geborenen Cherchesov durchaus lang. Doch der russische Nationalstürmer Aleksandr Kerzhakov enthüllte kürzlich, dass Cherchesov schon als 38-Jähriger bei der Weltmeisterschaft 2002 fest davon ausging, einst russischer Nationaltrainer zu werden.

"Diese Unterhaltung mit Sasha (Kerzhakov) gab es tatsächlich", sagt Cherchesov. "Er war 19 und ich 38. Ich war der älteste Spieler im Kader und musste mir Gedanken über die Zukunft machen. Gott muss unsere Unterhaltung wohl gehört haben."

In den Jahren seit 2002 kam Russland bei zwei UEFA-Europameisterschaften und bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Brasilien 2014 jeweils nicht über die Vorrunde hinaus. Cherchesov hat seine eigene Sicht auf dieses zuletzt eher unbefriedigende Abschneiden bei großen Turnieren.

"Das muss man zunächst mal richtig einzuordnen wissen. Man muss wissen, was man kann und was nicht", sagt er. "Man kann von einem Fussballer nur das verlangen, wozu er auch in der Lage ist. Ich war bei zwei Weltmeisterschaften dabei und weiß, wie wichtig das ist. Wenn man zu viel von den Spielern verlangt, hat man gleich Probleme."

Wie also will Russland den eigenen Anhängern bei der nächsten WM am liebsten in Erinnerung bleiben? "Jeder soll sehen, dass wir alles für das große Ziel geben, dass jeder in der Mannschaft bei der Sache ist, voll konzentriert ist und zeigen will, was er kann", erwidert Cherchesov darauf. "Alles beginnt mit einer positiven Grundeinstellung. Mit Negativität kommt man nicht weit", ergänzt er.

Immer wieder Löw Bis zur Weltmeisterschaft 2018 sind die einzigen Pflicht-Länderspiele für Russland die beim FIFA Konföderationen-Pokal 2017. Welches Ziel hat sich der Gastgeber für das Festival der Meister, die Generalprobe für Russland 2018, gesetzt?

"Ich bin ein Alles-oder-nichts-Typ. Das olympische Motto 'Dabeisein ist alles!' ist nichts für mich", eröffnet uns Cherchesov. "In einem Turnier sollte man die Messlatte schon hoch legen. Letztlich kann man nämlich jedes Spiel gewinnen. Dass wir momentan noch keine Mannschaft auf höchstem Niveau haben, steht auf einem anderen Blatt. Unsere erste Aufgabe ist es, eine neue Mannschaft aufzubauen und uns auf unsere Freundschaftsspiele vorzubereiten. Erst danach können wir uns Ziele setzen."

Die Chancen stehen derweil gut, dass Cherchesov beim Konföderationen-Pokal einen alten Bekannten wiedertreffen wird: Deutschlands Nationaltrainer Joachim Löw. Denn Cherchesov spielte in seiner aktiven Karriere nicht nur für Spartak Moskau und Lokomotive Moskau sowie für Dynamo Dresden in Deutschland, sondern er hütete auch das Tor des österreichischen Klubs Tirol Innsbruck. Dort war er einer der Stars und der Weltmeistertrainer von 2014 sein Coach.

"Löw kam in einer schwierigen Phase zu uns, als der Verein in finanziellen Schwierigkeiten steckte", erzählt Cherchessov, wie er Löw kennenlernte und Bande zu ihm knüpfte. "Wir haben praktisch die ganze Saison kein Gehalt bekommen und wurden trotzdem österreichischer Meister. Joachim war für einen Trainer noch sehr jung, aber er beeindruckte mit Zuversicht und neuer Denkweise. Natürlich haben wir ihm als gefestigte Mannschaft die Arbeit auch leichter gemacht."

Bis heute hält Cherchesov regelmäßig Kontakt zu seinem Trainer von damals und Kollegen von heute. "Vor einer Stunde erst habe ich ihn angerufen", berichtet er und zeigt wie zum Beweis die Anrufliste seines Mobiltelefons. "Ich hoffe, wir treffen uns auf der Trainerkonferenz im September."

Dieser Wunsch ist nur zu verständlich. Danach nämlich könnten sich die alten Freunde als Gegner gegenüberstehen. Beim Konföderationen-Pokal.