Montag 18 Juni 2018, 08:44

Brasiliens starke linke Seite

Von Giancarlo Giampietro, Teamreporter Brasilien

In der brasilianischen Seleção war niemand davon ausgegangen, dass der WM-Auftakt einfach werden würde. Die disziplinierten und physisch starken Schweizer zerstören nämlich gern das Spiel ihrer Gegner. Genau das ist ihnen auch über weite Strecken der Partie gegen Tites Auswahl gelungen. Daher war das 1:1 in Rostow am Don auch nicht wirklich eine Überraschung.

Dennoch haben es die Brasilianer geschafft, das Abwehrbollwerk zu durchbrechen. Das ist auch kein Wunder, wenn Spieler wie Marcelo, Philippe Coutinho und Neymar zum Team gehören. Insbesondere, wenn ein so talentiertes Trio auf derselben Spielfeldseite zum Einsatz kommt, in diesem Fall auf der linken.

Nicht alle Teams bei dieser WM werden so diszipliniert und druckvoll in die Partien gehen wie die Schweizer. Und selbst gegen die Schweiz, gegen die die Stars nicht ihren besten Tag hatten, konnten sie mit ihren Aktionen Breschen in die Abwehr schlagen. Aus einer dieser Aktionen entstand das Traumtor von Coutinho.

Das Trio lässt bei jedem Gegner Sorgenfalten auf der Stirn erscheinen. "Diese drei Spieler sind vielleicht unter den zehn besten der Welt", so der Mittelfeldspieler Renato Augusto im Gespräch mit der FIFA. Er zählt selbst zu den Leistungsträgern des Teams, wurde im Spielverlauf eingewechselt und rückte auf Coutinhos Position auf der besagten linken Seite.

Selbst in einem so kniffligen Spiel können die Stars den Eindruck erwecken, als sei das Fussballspielen eine ganz einfache Sache. Nehmen wir einmal folgendes Beispiel: Es reicht schon aus, Coutinhos Beschreibung von seinem gelungenen Abschluss zu lesen. "Der Verteidiger hat den Ball zunächst geklärt. Als der Ball bei mir gelandet ist, wusste ich schon, dass ich [aufs Tor] schießen würde. Ich habe eine Lücke gefunden und abgezogen", so derBudweiser Man of the Match nachdem er die Auszeichnung erhalten hatte.

Auch wenn er seine Leistung bei dieser Aktion herunterspielt, ist es paradox, dass die Seleção ausgerechnet bei diesem ausgesprochen schwierigen Abschluss zum Erfolg gekommen ist. In den letzten zehn Minuten spielte das Team dann eine Torchance nach der anderen heraus, konnte jedoch keine davon nutzen.

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Laut Tite spielten die Nerven eine entscheidende Rolle. "Das ist ganz normal. Wir arbeiten vier Jahre auf diesen Zeitpunkt hin, da ist man dann schon etwas nervös", so Renato Augusto. "Aber natürlich hatte auch die Schweiz ihren Anteil und hat ihr Spiel gemacht."

Für den Mittelfeldspieler lassen sich aus dieser Partie wichtige Lehren ziehen. Unter anderem, dass das Team in der Vorwärtsbewegung weniger einseitig agieren muss und die rechte Seite nicht vernachlässigen darf. "Wir müssen die Stärke von Willian nutzen, einem weiteren sehr hochklassigen Spieler, damit wir nicht so leicht ausrechenbar sind", meint Renato Augusto. Gleichzeitig macht er darauf aufmerksam, dass der verletzungsbedingte Ausfall von Dani Alves sich negativ ausgewirkt hat. "Mit ihm war die Mannschaft wirklich im Gleichgewicht. Danilo muss sich erst einmal einfinden und die Abläufe verstehen. Er ist ebenfalls sehr stark, und wir werden auch mit ihm unser Spiel machen."

"Gleichgewicht" ist im Übrigen ein Konzept, das Tite sehr am Herzen liegt. Seine Taktik sieht natürlich Angriffe aller Art und unter Ausnutzung des gesamten Spielfelds vor. Dennoch wird die Seleção in Spielen, in denen sie nicht mit einer so undurchlässigen Abwehr wie der schweizerischen konfrontiert ist, viel über die linke Flanke kommen.