Freitag 03 Juli 2020, 06:45

WM 1990: Als Neapel in argentinischer Hand war...

  • ​Die Neapolitaner waren gespalten: Maradona oder Italien?

  • Der Gastgeber war der Favorit

  • Goycochea sollte zum Helden werden

Auf der einen Seite der dreimalige Weltmeister Italien, der für seine unbändige Leidenschaft für den Fussballsport bekannt ist, und erstmals seit 56 Jahren wieder eine FIFA Fussball-Weltmeisterschaft™ ausrichtete. Auf der anderen Seite Argentinien, das bestrebt war, den Titelgewinn von 1986 zu wiederholen und zudem den legendären Diego Armando Maradona in seinen Reihen hatte. Das San-Paolo-Stadion in Neapel mit all den Napoli-Fans, die den vermutlich größten argentinischen Spieler aller Zeiten anfeuerten. Dies war die Ausgangssituation eines WM-Halbfinales, das in die Geschichte eingehen sollte. Die enorme Bedeutung dieser Partie sorgte für Anspannung und Dramatik...

Das Spiel am 3. Juli 1990 übertraf sogar die Erwartungen der größten Optimisten. Die Azzurra und die Albiceleste sorgten zweifelsohne für eines der aufregendsten und unvergesslichsten Spiele dieser Weltmeisterschaft.

Italien hatte ein großartiges Turnier ausgerichtet, das von den Organisatoren als "Weltmeisterschaft der Moderne" bezeichnet wurde. Mit zehn modernisierten und zwei neuen Stadien, einer Eröffnungsfeier, die dem unverkennbaren italienischen Stil würdig ist, und einem offiziellen WM-Song, der zu einem regelrechten Ohrwurm wurde, wurde allen früheren Champions und deren Stars eine großartige Bühne geboten.

Die Gastgeber hatten vor Argentinien großen Respekt und auch ein wenig Angst. Obwohl sie besser in Form waren als der Titelverteidiger, ließ die bloße Präsenz des klein gewachsenen, jedoch groß aufspielenden Maradona Zweifel hinsichtlich des Finaleinzugs aufkommen. Und das alles in Neapel, sozusagen im Wohnzimmer des damals besten Fussballers der Welt.

Diego Maradona erinnerte sich in seiner Autobiografie "El Diego. Mein Leben" an die Situation vor dem Spiel: "Es war nicht irgendein Halbfinale. Wir spielten gegen Italien, und außerdem in Neapel! Als ich vor die Presse trat, sagte ich etwas, das sie mir niemals verzeihen sollten, auch wenn es die Wahrheit war: 'Es gefällt mir nicht, dass man an die Neapolitaner appelliert, den Italienern die Daumen zu drücken.'" In den Neapolitanern schlugen zwei Herzen, und dies kam auch auf deren Spruchbändern zum Ausdruck: "Diego im Herzen, Italien in den Gesängen" oder "Maradona, Neapel liebt dich, doch Italien ist unsere Heimat."

Die Ausgangslage

Italien ging als Favorit in dieses Spiel. Der Gastgeber hatte zuvor Österreich, die USA, die Tschechoslowakei, Uruguay und die Republik Irland besiegt, ohne auch nur einen Gegentreffer zu kassieren. Der Kader war mit zahlreichen Stars gespickt: Torhüter Walter Zenga, Franco Baresi, Paolo Maldini, dem jungen, talentierten Roberto Baggio, Torjäger Gianluca Vialli und der Entdeckung des Turniers, Salvatore Totò Schillaci, der zum besten Torschützen dieser Weltmeisterschaft avancierte.

Argentinien hatte hingegen keinen Grund, optimistisch zu sein: Das Eröffnungsspiel gegen Kamerun war verloren gegangen, und man hatte sich nur knapp als einer der besten Gruppendritten für das Achtelfinale qualifiziert. Dort besiegte man Brasilien dank eines Treffers von Claudio Caniggia, dem eine geniale Vorarbeit von Maradona vorausgegangen war, obwohl der südamerikanische Erzrivale über 90 Minuten klar überlegen war. Im Viertelfinale wartete Jugoslawien, das man nach einem torlosen Remis nach 120 Minuten trotz numerischer Überlegenheit erst im Elfmeterschießen in die Knie zwingen konnte. Maradona hätte angesichts eines eingewachsenen Nagels am rechten Fuß und eines entzündeten Knöchels beinahe pausieren müssen. Doch er war der Weltmeister...

Das Spiel

Die Squadra Azzurra erwischte den besseren Start und machte von Beginn an deutlich, wer der Herr im eigenen Stadion war. Argentinien fand kaum ins Spiel, obwohl Jorge Burruchaga den italienischen Schlussmann bereits in der achten Spielminute zu einer Glanzparade zwang. In der 17. Minute nutzte Schillaci jedoch eine Unaufmerksamkeit des argentinischen Torhüters Sergio Goycochea, der den Ball nach einem Schuss von Vialli nicht festhalten konnte, und brachte die Italiener in Führung. Danach stieg die Spannung immer weiter, zumal auch die Südamerikaner etwas mehr für das Spiel taten. Dank der Erfahrung von Ricardo Giusti, Julio Olarticoechea, Burruchaga, Oscar Ruggieri und Maradona konnten die Argentinier mit den Italienern plötzlich mithalten und waren am Ende der ersten Halbzeit sogar die bessere Mannschaft.

Argentinien setzte die Hausherren gehörig unter Druck und zeigte seine wahrscheinlich beste Leistung während des gesamten Turniers. In der 67. Minute war es schließlich so weit: Maradona nahm die gegnerische Abwehr mit einem einzigen Pass auf Olarticoechea auseinander, welcher quer auf Caniggia flankte. Dieser brachte den Ball mit einem leichten Kopfball im Tor von Zenga unter. Der Ausgleich führte nicht nur zu ausgelassener Freude unter den Fans der Albiceleste, sondern beendete auch die seit 517 Minuten bestehende Torsperre der Italiener.

In weiterer Folge war beiden Teams die nervliche Anspannung anzumerken. Niemand wollte ein Risiko eingehen, beide Mannschaften ließen nun Vorsicht walten. Somit ging die Partie in die Verlängerung. In den ersten 15 Minuten konnten die Italiener beinahe über einen Torerfolg jubeln, doch Goycochea konnte Baggios Freistoß gerade noch über die Latte lenken. Nach dem Ausschluss von Giusti waren die Argentinier in Unterzahl, die jedoch kurioserweise ganze 23 Minuten währte. Der französische Schiedsrichter Michel Vautrot hatte einfach die Zeit übersehen, wie er später einräumte.

Die Albiceleste wurde in die Defensive gedrängt und Italien war klar überlegen, doch am Ende musste die Entscheidung im Elfmeterschießen fallen. Baresi, José Serrizuela, Baggio, Burruchaga, Luigi De Agostini und Olarticoechea sorgten für ein zwischenzeitliches 3:3. Dann parierte Goycochea den Strafstoß von Roberto Donadoni, ehe ausgerechnet Maradona seine Mannschaft mit einem präzisen Schuss mit 4:3 in Führung brachte. Zum Helden dieses Spiels avancierte jedoch der argentinische Torhüter, der auch den Elfmeter von Aldo Serena hielt und seiner Mannschaft somit den zweiten Einzug in ein WM-Finale in Folge sicherte.

Zitate

"Der Jubel nach dem gehaltenen Elfer von Serena im Halbfinale gegen Italien war meine schönste Erinnerung an die WM 1990. Das ist das Schönste, das der Fussballsport zu bieten hat: in einem verstummten Stadion zu laufen und nur den Jubel meiner Mitspieler zu hören. Es war, als hätte ich auf einem kleinen Fussballplatz meines Heimatdorfes Lima einen Elfmeter von Gordo Mario gehalten. Das war großartig, auch wenn das Spiel gegen Italien natürlich wichtiger war!" Sergio Goycochea (Torhüter, Argentinien)

"Wir haben unser Bestes gegeben, um das Endspiel zu erreichen. Es war eine ausgeglichene und kampfbetonte Partie. Argentinien spielte deutlich besser als in den vorangegangenen Partien. Alles in allem hätten wir etwas mehr verdient, doch das ist Fussball." Azeglio Vicini (Trainer, Italien)

Was danach geschah...

Italien konnte sich für die Niederlage rehabilitieren und sicherte sich mit einem 2:1-Erfolg über England den dritten Platz. Dank seines Treffers in dieser Partie wurde Schillaci außerdem zum WM-Torschützenkönig. Der Stamm dieser Mannschaft sollte vier Jahre später das Endspiel der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft USA 1994 gegen Brasilien nach Elfmeterschießen verlieren.

Argentinien musste hingegen der Intensität dieses Spiels Tribut zollen. Abgesehen vom rotgesperrten Giusti musste auch Caniggia nach seiner zweiten gelben Karte pausieren. Im Endspiel gegen die BR Deutschland war somit kein Kraut gewachsen, und die Deutschen gingen dank eines verwandelten Elfmeters von Andreas Brehme als Sieger vom Platz. Die Albiceleste konnte seither kein WM-Halbfinale mehr erreichen.