Mittwoch 15 Februar 2017, 08:07

Nadia Nadim, das Flüchtlingsmädchen mit dem Fussball

Nadia Nadim ist kaum zu bremsen. Man muss sie förmlich vom Trainingsgelände der Portland Thorns zerren, wo sie sonst stundenlang an ihrer Schusstechnik feilt. Auch in ihrem Medizinstudium, das sie neben dem Fussball betreibt, glänzt sie mit starken Leistungen. Selbst am Telefon hat man das Gefühl, man könnte ihr Lächeln hören. In ihrer Stimme schwingt stets eine freudige Rastlosigkeit mit. Und sie hat es im wahrsten Sinne des Wortes sehr weit gebracht.

Als Nadia noch ein kleines Mädchen war, brachte ihr Vater eines Tages einen Fussball mit nach Hause. "Es war einer dieser alten Bälle, wie aus den 70er Jahren, weiß mit schwarzen Fünfecken", erzählt sie im Gespräch mit FIFA.com, denn den Ball sieht sie bis heute noch wie ein verblassendes Foto vor sich. "Meine Schwestern und ich wussten eigentlich gar nichts über Fussball, daher haben wir damit Volleyball und andere Spiele gespielt. Es hat uns großen Spaß gemacht."

Das alles spielte sich in Afghanistan ab, unter der Herrschaft der Taliban. "Mein Vater war ein riesiger Fussballfan", so die heute 29-jährige Nadia, die mittlerweile zu den Topstars im Frauenfussball zählt. Ein bisschen bedrückt hört sie sich an, als sie über ihren Vater spricht, der sie mit dem Fussball in Kontakt brachte. "Er war völlig verrückt danach und hat versucht, seine Liebe zum Fussball an seine fünf Töchter weiterzugeben."

Als ihr Vater im Jahr 2000 verschwand, befürchtete Nadias Familie gleich das Schlimmste. "Die Taliban haben ihn verschleppt", erzählt sie, und man hört immer noch die Aufregung und auch die Verzweiflung heraus, die sie als damals Zwölfjährige empfand. "Er verschwand einfach. Wir wussten, dass er nicht zurückkehren würde, dass er ermordet werden würde."

Nadias Mutter Hamida lebte nun in großer Angst um ihre Töchter. Die resolute und unerschrockene Frau entwickelte einen Fluchtplan. "Wir waren allein, eine Mutter mit ihren fünf Töchtern", so Nadia. "Wir hatten dort keinerlei Zukunft. Keine Schule, keine Arbeit. Wir durften ohne männliche Begleitung nicht einmal die Straße entlang gehen. Das Land um uns herum stand lichterloh in Flammen."

Eine lange, gefährliche Flucht Die Familie wollte fliehen, egal wie schwer es auch sein würde. "Meine Mutter wollte, dass wir eine Zukunft haben, dass wir ein unabhängiges Leben führen können", so Nadia. In einer dunklen Nacht weckte die Mutter schließlich ihre Kinder und die sechs Frauen machten sich auf den Weg, wurden zu Flüchtlingen in einer überaus gefährlichen Welt. Sie wurden aus dem Land geschmuggelt, nur mit den Sachen, die sie am Leib trugen. Die sechs Frauen versuchten, der Hoffnungslosigkeit zu entkommen. In einem Minivan durchquerten sie Afghanistan und Pakistan. Dann gelang es ihnen, mit gefälschten Pässen nach Italien zu fliegen. Sie hofften, es irgendwie weiter bis nach England zu schaffen. Schließlich landeten sie in Dänemark.

Hier wartete zwar nicht unbedingt die Freiheit, doch immerhin ein Neuanfang. Die Flüchtlingsunterkunft war zumindest besser als gar keine Hoffnung und gar keine Zukunft. "Ich war dort eigentlich ziemlich glücklich", so Nadia. "Natürlich vermisste ich meinen Vater, doch der Rest der Familie war ja bei mir."

Von morgens um neun bis mittags um eins gingen die Nadim-Mädchen zur Schule, doch danach hatten sie frei. Und sie begannen, Fussball zu spielen. "Wir spielten immer und ständig", erzählt Nadia und bricht beim Gedanken an diese noch recht chaotischen ersten Tage in ihrer neuen Heimat in Gelächter aus. "Wir wussten immer noch nicht so richtig, wie man Fussball spielt. Wir wussten nur, dass man den Ball schießen und rumrennen und Tore schießen muss!"

Freizeit und Fussball Um ein paar Minuten wertvolle Zeit auf dem Spielfeld zu bekommen, sammelte Nadia beim lokalen Fussballklub stundenlang die verschossenen Bälle hinter dem Tor ein. Im Fernsehen konnte sie erstmals einen Blick auf die internationalen Topstars des Fussballs werfen. "Ronaldo, der Brasilianer, und Figo und Zidane", zählt sie die Namen der Großen voller Ehrfurcht auf. Das steigerte ihre Fussballbegeisterung nur noch mehr. "Wir sahen Werbespots mit David Beckham, der den Ball so unnachahmlich schoss und konnten kaum glauben, was wir da sahen."

Nadia war derart begeistert von Oliver Kahn, dass sie ihre jüngere Schwester drängte, ebenso wie der Titan nach den Bällen zu hechten und über den Boden zu schlittern. "Das war vielleicht nicht die beste Idee", gluckst sie. "Wir haben nämlich auf einem Betonplatz gespielt und sie hatte war danach mit blauen Flecken und Schürfwunden übersät!"

Es dauerte nicht lang, bis Nadia von einem Trainer entdeckt wurde. Es fiel ihr allerdings nicht ganz leicht, die alten kulturellen Fesseln abzuschütteln. "Selbst in Dänemark, wo Frauen alles tun können, was auch Männer tun, hatte ich noch das Gefühl, dass ich mit dem Fussballspielen etwas Verbotenes tat", sagt sie. "Als ob ich das Gesetz brechen würde."

Immer unterstützt von ihrer Mutter, die sich im Gegenzug über die guten Leistungen ihrer Töchter in der Schule freute, bestritt Nadia 2012 ihr erstes Spiel in der UEFA Champions League der Frauen – drei Jahre nach ihrem Debüt in der dänischen Nationalmannschaft. "Wenn ich verliere, werde ich auf dem Feld sehr emotional", sagt sie. "Es gibt nichts, was ich noch mehr hasse! Aber andererseits freue ich mich auch riesig, wenn ich Tore schieße. Dann brechen alle Emotionen aus mir heraus."

Derzeit bereitet sie sich auf die Teilnahme an der UEFA EURO der Frauen im Sommer vor und träumt davon, eines Tages auch bei der FIFA Frauen-Weltmeisterschaft anzutreten. Oft denkt sie dabei an den Tag zurück, an dem ihr Vater einen Fussball mitbrachte und damit ihr Leben veränderte. "Alles begann als ein Spiel, bei dem man Spaß haben und ausbrechen konnte", so Nadia. "Und genau so fühlt es sich für mich auch heute noch an. Fussball ist und bleibt ein Spiel. Das ist wichtig für mich."