Samstag 24 Dezember 2016, 09:58

Michelle Akers: Amerikas Pionierin

  • Michelle Akers war der Star der ersten FIFA Frauen-WM

  • Im Endspiel gelang ihr ein Doppelpack, außerdem gewann sie den Goldenen Schuh

  • Akers: "Ich habe auf dem Feld etwas riskiert"

An einem warmen Sommertag im Jahr 1978 musste die zwölfjährige Michelle Akers Schlimmes mit ansehen. Ihr Lieblingsspieler der heimischen Seattle Sounders zog sich einen offenen Beinbruch zu und beförderte den Ball trotz dieser schweren Verletzung noch aus der Gefahrenzone.

"Dave Gillet", erinnert sich Akers, eine Pionierin des Frauenfussballs, noch heute an den Namen des Spielers. "Er war ein eisenharter Zweikämpfer. Absolut kompromisslos. Wild entschlossen. Und es gereichte ihm nicht zum Nachteil, dass er verflixt gut aussah", erzählt sie gegenüber FIFA.com.

Die kleine Michelle wiederum zuckte beim Anblick des aus dem Bein herausragenden gebrochenen Knochens nicht zusammen. Sie sah nicht weg, vergrub nicht das Gesicht in den Händen. Gilles' außerordentliche, ja extreme Verbissenheit, wurde für Akers zur Inspiration. Heute gilt die Frau, die in einfachen Verhältnissen in einem Vorort von Seattle aufwuchs, als eine der besten Fussballerinnen aller Zeiten. Engagiert und kampfstark, wie kaum jemand vor und kaum jemand nach ihr.

"Tatsächlich musste ich lernen, nicht so hart einzusteigen", sagt Akers, die 1985 das erste Tor für die U.S.-Nationalmannschaft erzielte, zwei Mal Weltmeisterin wurde und in 153 Länderspielen über einhundert Tore schoss. "Ich bin unnötige Risiken eingegangen. Ich habe mich selbst immer weiter angespornt und selbst bei einer Führung von 7:0 noch alles und jeden weggegrätscht. Meine Trainer hat das wahnsinnig gemacht."

Vom Mittelfeld in den Sturm

Doch Akers war stets mehr als Zweikämpferin und Arbeitstier. Sie hatte obendrein Auge und Technik. "Ich war die geborene Spielmacherin", sagt sie heute über sich. Auf ihrer Farm in Georgia kümmert sie sich inzwischen um misshandelte und vernachlässigte Pferde und legt dabei dieselbe Leidenschaft an den Tag wie früher auf dem Platz. "Ich hatte gern das Spiel vor mir, habe gern den Ball verteilt."

Just vor der ersten FIFA Frauen-Weltmeisterschaft 1991 wurde Akers jedoch zur Stürmerin umfunktioniert. Und sie macht keinen Hehl daraus, wie ihr das gefallen hat. "Ich hab's gehasst", sagt sie und kichert in sich hinein. Sie will es sogar noch mehr gehasst haben als ihre Zeit zwischen den Pfosten in frühester Jugend. Damals musste sie sich bezähmen, obwohl sie als kleines Mädchen voller Mut und mit noch mehr Energie eigentlich immer mitten im Getümmel sein wollte. "Ich musste lernen, Mittelstürmerin zu sein, das Spiel im Rücken zu haben und das Tor auch."

Um sich an die neue Position zu gewöhnen, trainierte Akers mit einigen Fussballern aus Seattle zusammen. "Es war anders als heute", sagt sie das, was wohl alle Pioniere sagen. "Wir mussten uns im Training viel selbst erarbeiten. Die Nationalmannschaft hat sich vielleicht fünf Mal im Jahr getroffen und wer im Team bleiben wollte, musste individuell Sonderschichten einlegen."

Letztlich arbeitete niemand härter als Akers, die in ihren 15 Jahren im U.S.-Trikot drei verschiedene Positionen bekleidete. Als Neu-Stürmerin befragte sie 1991 ihre Trainer, von wem sie sich am ehesten etwas abschauen könne. Man riet ihr zu "Rudi Völler, Marco Van Basten, Jürgen Klinsmann, Gary Lineker". Die Namen rasselt Akers noch heute nur so herunter. "Ihnen habe ich nachgeeifert", erzählt sie. "Ich habe mir abgeschaut, wie sie den Ball gehalten haben, wie sie sich gedreht haben, welchen Zug zum Tor sie hatten."

1991 war Akers 25 und Teil eines Dreier-Sturms mit April Heinrichs und Carin Jennings, die später zur besten Spielerin der Premieren-WM gewählt werden sollte. "Ich hatte mir zuvor nie eine WM der Männer im Fernsehen angesehen", gesteht Akers. "Im Grunde genommen wusste ich gar nicht, worum es überhaupt ging. Für mich war es einfach ein Turnier, das ich gewinnen wollte."

"Unser erstes Spiel war gegen Brasilien", erinnert sich Akers an das Debüt auf der ganz großen Bühne. "Und ich habe tierisch auf die Socken bekommen! Einige Grätschen waren Irrsinn. Mit hohem Bein, die Stollen voraus. Ohne Rücksicht auf Verluste. Da merkte ich: 'Okay, hier geht's offenbar richtig zur Sache!' Das hat mir die Augen geöffnet. Es war ein Turnier auf nie zuvor da gewesenem Niveau."

Der Herausforderung gewachsen

Anpassungsschwierigkeiten hatte Akers keine. Ihr erstes WM-Tor schoss sie beim Sieg zum Auftakt gegen Brasilien, ihr neuntes und zehntes in diesem Wettbewerb im Endspiel gegen den ewigen Rivalen aus Norwegen. Beide Tore beim 2:1-Sieg gingen auf das Konto von Akers und verdeutlichten ihre Vielseitigkeit. Ihr erster Treffer war ein wuchtiger Kopfball, der vom Innenpfosten ins Tor sprang. Den Siegtreffer zwölf Minuten vor Schluss erzielte Akers schließlich, weil sie einem scheinbar unerreichbaren Ball nachjagte und das Spielgerät dann mit links an der gegnerischen Torhüterin vorbei legte und mit rechts ins Tor zirkelte.

"Uns war nicht bewusst, dass wir da etwas Historisches vollbracht hatten oder so", beschreibt Akers selbst den damaligen Triumph. "Wir wussten ja noch nicht mal, ob es noch eine zweite Weltmeisterschaft geben würde oder nicht. Ich wusste nur, was es heißt, mein Land zu vertreten, dieses Trikot zu tragen und diesen unendlichen Stolz zu verspüren."

Nach dem größten Moment ihrer langen Laufbahn gefragt, nennt Akers kein bestimmtes Tor und auch nicht ihre Aufnahme in die Ruhmeshalle des U.S.-Fussballs oder die Tatsache, dass sie laut Pelé zu den FIFA 100 der besten noch lebenden Fussballerinnen und Fussballern gehört. Sie nennt auch nicht ihre führende Rolle beim Vorstoß, Frauenfussball zur olympischen Disziplin zu machen oder den Gewinn der olympischen Goldmedaille oder den der Weltmeisterschaft oder die Tatsache, dass sie es als Werbegesicht auf Frühstücksflockenpackungen geschafft hat. Auch der handgeschriebene Brief des bissigen Schotten Dave Gillet, Held ihrer Kindheit, findet keine Erwähnung.

"Es sind die Dinge, die sonst niemandem etwas bedeuten", sagt sie stattdessen mit der entschiedenen Beiläufigkeit bescheidener Menschen, die Außergewöhnliches leisten. "Die kleinen Dinge, von denen nur ich weiß."